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ProGentrifizierung oder Untergang

Von Aga / 6. November 2014
picture alliance / dpa | Hauke-Christian Dittrich

Für viele Stadtbezirke gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie werden aufgewertet – oder sie verwahrlosen. Gentrifizierung ist in jedem Fall das geringere Übel. Jürgen Wolff besitzt eine Apotheke. Statt pharmazeutischen Themen beschäftigt ihn jedoch vor allem das Braunschweiger Friedrich-Wilhelm-Viertel, „sein Viertel“. Wolff ist Vorstandsvorsitzender des Quartiersvereins des sogenannten Kultviertels. Er wohnt von Kindesbeinen an […]

Für viele Stadtbezirke gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie werden aufgewertet – oder sie verwahrlosen. Gentrifizierung ist in jedem Fall das geringere Übel.

Jürgen Wolff besitzt eine Apotheke. Statt pharmazeutischen Themen beschäftigt ihn jedoch vor allem das Braunschweiger Friedrich-Wilhelm-Viertel, „sein Viertel“. Wolff ist Vorstandsvorsitzender des Quartiersvereins des sogenannten Kultviertels.

Er wohnt von Kindesbeinen an in dem Viertel am westlichen Rand der Innenstadt – und musste mit ansehen, wie es langsam verfällt.

In den 1960er Jahren wurde der Bahnhof aus dem Viertel wegverlegt. Mit dem Bahnhof verschwanden auch viele Kunden der Einzelhandelsgeschäfte, die Umsätze brachen ein.

Stets engagiert: Jürgen Wolff im Büro seiner Post-Apotheke. (Foto: Falk-Martin Drescher.)
Stets engagiert: Jürgen Wolff im Büro seiner Post-Apotheke. (Foto: Falk-Martin Drescher.)

Ein Viertel verfällt

„Die Lage war ziemlich kritisch“, sagt Wolff rückblickend. Sogenannte Trading-Down-Effekte bestimmten die Entwicklung des Viertels, eine Entwicklung vom vollständigen Angebot mit pulsierendem Leben hin zu Leerständen und unpassenden Gewerbeaanbietern wie Spielhallen und Ein-Euro-Läden, die Traditionsunternehmen ablösen.

Insgesamt führen diese Effekte zu einem Imageverfall des Standortes. Nach dem Motto „Die Flucht vor’m Bruch“, wobei der Bruch die Rotlichtmeile bezeichnet, zog es Ärzte, Rechtsanwälte und Ladenbetreiber in andere Stadtteile Braunschweigs.

Im Lauf der vergangenen Jahrzehnte erholte sich das Viertel etwas, doch die Schlagzeilen in der Presse änderten sich kaum: Sexshops, Drogen, Leerstand wurden stets mit dem Friedrich-Wilhelm-Viertel assoziiert.

Die Straßenbahntrasse, die in den 1980ern in der Friedrich-Wilhelm-Straße gelegt wurde und eine jahrelange Baustelle bedeutete, gab vielen Geschäftsleuten den Rest. „Das war der zweite herbe Schlag nach der Verlegung des Bahnhofes“, erinnert sich Wolff.

Die Bewohner des Kultviertels zogen schließlich die Notbremse – und die sollte Gentrifizierung bedeuten.

Angestoßen durch eine Förderung des Landes Niedersachsen und unterstützt vom örtlichen Stadtmarketing wurde eine Quartiersinitiative ins Leben gerufen.

Wolff gründete gemeinsam mit weiteren Akteuren den Quartiersverein. Ihre Ziele: Die Aufmerksamkeit der Stadtplanung auf das Viertel zu richten und sein Image zu verbessern. „Die Imagewerbung war und ist eins unserer Hauptanliegen. Wir wollen zeigen, welche Vorteile dieses Quartier hat.“

Imagewandel

Zunächst einmal musste ein ansprechender Name her. Das Quartier wurde auf den Namen Kultviertel getauft. Er steht für eine ganz bestimmte Ladenkultur, die dort ansässig war und wieder ansässig werden sollte. „Der Name steht für das Zentrum der angesehensten Bars und Diskotheken, aber auch für eine Kultur des Individualunternehmertums“, erklärt Wolff.

Kleine Unternehmer, Kreativfirmen, außergewöhnliche Geschäfte, Ärzte, Rechtsanwälte und viele mehr sollten wieder in das Viertel kommen. Für junge Menschen war das Viertel auch in schlechteren Zeiten ein „Kultviertel“: In wenigen Straßenzügen kommen mehr als 15 Bars und Clubs zusammen.

Mission: Quartier aufwerten

Der Quartiersverein unterhält unter anderem imagefördernde Projekte wie die Veranstaltungen „Tag der SitzGelegenheit“, „Speakers Corner“ und „Kultviertelnacht“. Es sind urbane, niedrigschwellige Formate.

Besonders wichtig ist die Raumbörse. „Die Raumbörse soll mit Leerständen, die immer wieder auftauchen, möglichst konsequent umgehen. Leerstände werden durch Kreative mit Kunst und Kultur bespielt.“ Von den vergangenen neun Zwischennutzungsprojekten führten sieben zu einer Dauervermietung.

Gemeinsam soll das Viertel aufgewertet – oder auch gentrifiziert – werden. Die Macher wehren sich jedoch gegen den umstrittenen Begriff der Gentrifizierung.

„Im gewerblichen Bereich halte ich es für ein sehr heißes Eisen, von einer Gentrifizierung zu sprechen“, so Wolff. Wenn ein Stadtteil nicht mehr attraktiv sei, dann sei er das irgendwann auch nicht mehr für Geringverdiener und Betreiber von Billigläden.

„Wenn man Wirtschaft macht, muss man eben erfolgreich wirtschaften“, meint Wolff. „Die Form von Gentrifizierung, die wir wollen, ist eine Gewerblichkeit, die jenseits der Spielhallen-, Sexshop- oder Wettbüroatmosphäre liegt.“ Für die Zukunft des Kultviertels gebe es nur zwei Möglichkeiten: Gentrifizierung oder Untergang.

„Gentrifizierung ist lebensnotwendig für jedes Quartier, sonst droht die Brache“, sagt Wolff. Es handele sich jedoch nicht um eine Gentrifizierung im klassischen Sinne. „Die Bemühungen gehen nicht dahin, höhere Mieten zu erzielen, sondern überhaupt Mieten zu erzielen“, so Wolff.

Bestimmte soziale Schichten sollen nicht verdrängt werden. „Im Gegenteil: Wir wollen sie haben. Wir sind froh über die niedrigen Mieten und ganz interessiert daran, Leute zu beherbergen, die in anderen Quartieren keinen Unterschlupf finden.“

Inzwischen ist das Kultviertel sozial und gewerblich sehr durchmischt. Wolff: „Es ist ein gewisses Image entstanden. Junge, kreative Leute sagen: Da müssen wir unbedingt hin, das ist unsere kleine Heimat, die wir erreichen wollen.“

Vor allem ist es dem Quartiersverein gelungen, dass die Stadtverwaltung sich kümmert. So wurde der Bankplatz umgebaut und die Friedrich-Wilhelm-Straße begrünt. Wolff: „Dass die Stadt in dieses Quartier investiert und es nicht einfach liegen lässt, ist der größte Erfolg.“



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