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DebatteKükenurteil: Sind die Richter im Recht?

Von Christina Mikalo / 30. August 2019
picture alliance / Westend61 | Ekaterina Yakunina

Mitte Juni hat das Bundesverwaltungsgericht das Töten von Eintagsküken weiterhin erlaubt – vorerst. Die umstrittene Praxis hat ihre eigene (ökonomische) Logik und ist dennoch nicht ohne Alternative.

Sie werden geboren, sollen aber nicht leben: Eintagsküken sind für die heutige Geflügelindustrie nutzlos. Der Großteil der männlichen Tiere eignet sich nicht für die Mast, denn sie legen keine Eier und setzen im Vergleich zu den Weibchen wenig Fleisch an. Deshalb werden sie zu Millionen vergast oder geschreddert. Das Bundeslandwirtschaftsministerium geht von jährlich 45 Millionen toten Küken in Deutschland aus, das macht über 100 000 pro Tag.

Die frisch geschlüpften Tiere werden von ihren weiblichen Artgenossen getrennt und auf ein Fließband gesetzt. Dieses transportiert sie zu einem Industrieschredder, der sie in wenigen Sekunden zerhäckselt. Das sogenannte Kükenschreddern schockiert viele Menschen und führt inzwischen immer öfter zu Widerstand.

Schreddern bleibt übergangsweise erlaubt

Das Land Nordrhein-Westfalen hat 2013 versucht, die umstrittene Praxis per Erlass zu stoppen. Die damalige rot-grüne Regierung berief sich auf das Tierschutzgesetz. „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen“, so steht es in Paragraf 1 geschrieben. Eigentlich ist das Gesetz für die Brutbetriebe in ganz Deutschland bindend – seit 2002 ist es im deutschen Grundgesetz verankert.

Dennoch bekamen im selben Jahr zwei Brutbetriebe aus NRW Recht, die eine Gegenklage eingereicht hatten. Deren wirtschaftliche Interessen waren aus Sicht des zuständigen Oberverwaltungsgerichts in Münster ein „vernünftiger Grund“, um das Kükenschreddern zu rechtfertigen und also beizubehalten.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in einem Grundsatzurteil allerdings diesen Beschluss für ungültig erklärt. „Die Belange des Tierschutzes wiegen schwerer als das wirtschaftliche Interesse der Brutbetriebe, aus Zuchtlinien mit hoher Legeleistung nur weibliche Küken zu erhalten“, begründeten die Richter ihre Entscheidung in einer Pressemitteilung. Das Kükentöten ist damit aber immer noch nicht passé.

Teilerfolg für den Tierschutz?

Die bisherige Praxis darf fortgesetzt werden – so lange, bis es möglich ist, das Geschlecht der Küken vor dem Ausschlüpfen serienmäßig, also ohne großen Aufwand zu bestimmen. Daran arbeiten Wissenschaftler derzeit. Das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass geeignete Methoden „in Kürze“ zur Verfügung stehen. Küken könnten dann bereits in der embryonalen Phase als Männchen identifiziert, aussortiert und noch als Ei zu Tierfutter verarbeitet werden.

Zur Zeit haben die Geflügelzüchter lediglich die Möglichkeit, die sogenannten Bruderhähne mitaufzuziehen, um deren massenhaftes Sterben zu vermeiden. Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts wäre das jedoch eine unzumutbare Belastung. Bei den heutigen Dimensionen der Tierzucht mit Tausenden Tieren pro Hof müssten die Züchter ihre Betriebe komplett umbauen, von steigenden Futterkosten ganz zu schweigen.

Die auf Wirtschaftlichkeit ausgerichtete Massentierhaltung ist damit ein wesentlicher Teil dieses Dilemmas. Vielen erscheint sie unausweichlich. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt aber, dass Hühner früher industriell durchaus anders gehalten wurden.

Früher war alles kleiner

Bis in die 1960er Jahre hinein zog man in Deutschland Hühner und Hähne gemeinsam auf, schreibt etwa die Journalistin Theresa Bäuerlein auf der Onlineplattform Krautreporter. Die Weibchen lieferten Eier, die Männchen Fleisch. Solche Zweitnutzungsrassen züchten heute nur noch wenige Landwirte und landwirtschaftliche Organisationen. Die Bruderhahn-Initiative, ein Zusammenschluss von über 30 Agrarbetrieben, will langfristig wieder auf die Zweitnutzungsrassen umsteigen.

Viele Geflügelzüchter setzen aber weiterhin auf die Boden- oder sogar Käfighaltung. Letztere wurde zwischen 1960 und 1970 in Deutschland eingeführt und ermöglichte es, bis zu Hundertausend Tiere auf engem Raum zu halten. Die Landwirte versprachen sich von dieser Haltungsweise wirtschaftliche Rentabilität. Tierschützer wie Bernhard Grzimek hielten sie jedoch für schädlich und prägten den geläufigen und eher negativ besetzten Begriff der Massentierhaltung.

Aufhalten ließ sich die neue Nutztierhaltung dadurch nicht. Die Tiere selbst wurden dem Wirtschaftsdogma angepasst: Heute gibt es fast nur noch Hybridhühner, die entweder besonders viele Eier legen oder schnell viel Fleisch ansetzen. Bäuerlein veranschaulicht die Dimensionen, die die moderne Landwirtschaft angenommen hat. „Würde man die Eier zählen, die eine Henne aus einem typischen deutschen Stall legt, käme man auf 300 im Jahr. Das ist fast doppelt so viel wie in den Sechzigerjahren.“

(K)Ein Ende in Sicht?

Die ökonomische Perspektive hat das Thema Hühnerzucht lange dominiert. Vor diesem Hintergrund war auch die Erfindung des Kükenschredderns ein logischer Schluss, um finanzielle Verluste zu verhindern. Doch fallen ethische Aspekte wieder stärker ins Gewicht. Wie der Deutschandfunk berichtet, kommen Industrieschredder inzwischen immer seltener zum Einsatz. Und mit der Käfighaltung, die zu weiten Teilen bereits seit 2010 verboten ist, soll 2025 endgültig Schluss sein.

Je mehr über den erschreckenden Umgang mit Eintagsküken bekannt wird, desto größer wird der öffentliche Druck, das millionenfache Töten zu stoppen. Auch das von vielen als halbherzig empfundene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts steht so – erneut – zur Debatte.



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