ProBleiben wir realistisch
Eine Vielzahl der Geflügelzüchter sieht in dem richterlichen Urteilsspruch über das Verfahren mit männlichen Küken eine weise Entscheidung. Aber nicht nur sie. Warum?
Im Juni entschied das Bundesverwaltungsgericht Leipzig, dass das Töten männlicher Eintagsküken tierschutzwidrig sei, aber nicht so ohne weiteres auf ein anderes System umgestellt werden könne, und verlangte deshalb nicht, das gängige Verfahren einzustellen. Eine weise Entscheidung, finden nicht wenige Geflügelzüchter. Ich versuche zu verstehen, wie sie zu ihrer Sichtweise kommen, und versetze mich gedanklich dazu in ihre Lage. Zwar würde ich das Tierwohl am liebsten grundsätzlich über wirtschaftliche Aspekte stellen, aber es gibt gute Gründe, die das Urteil im Sinne der Geflügelwirtschaft – und der Verbraucher – rechtfertigen.
I. Wirtschaftlichkeit versus Tierethik
Die Richter standen zwischen zwei Stühlen, nämlich der Frage nach dem Tierwohl einerseits und der Wirtschaftlichkeit von Tierzucht andererseits. Der wichtigste Aspekt ihrer Entscheidung ist die Botschaft: Das Kükentöten hat keine Zukunft, alternative Verfahren dagegen schon. Aber leichtfertig die Existenz von Betrieben auf’s Spiel setzen ist keine Lösung, sondern schafft nur ein weiteres Problem – und möglicherweise Leid für ungewollte Tiere.
II. Das Wunschhuhn
Viel Fleisch und viele Eier von nur einer Henne, bleibt ein frommer Wunsch. Sogenannte Zweinutzungshühner, die es früher häufig gab, legen in der Regel weniger als die inzwischen üblichen 300 Eier pro Jahr und setzen kleinere Fettdepots an. Züchter trennen deshalb seit Jahrzehnten in Lege- und Mastrassen. Bei einem Umstieg auf diese doppelt genutzte Hühnersorte müssten sowohl Geflügelwirtschaftler als auch Konsumenten gewaltige Einbußen bzw. steigende Preise hinnehmen. Aber sogenannte Bruderküken könnten länger leben. Doch Fakt ist, dass dies für deutsche Verbraucher offenbar keine Option darstellt: Laut dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft verspeisen wir pro Kopf im Schnitt 235 Eier und 22,2 Kilogramm Geflügelfleisch im Jahr. Unser Verbrauch ist damit so hoch, dass die Nachfrage sogar durch Import aus dem Ausland gedeckt werden muss.
III. Zeiten ändern sich
Dass viele Konsumenten das Kükentöten nicht mehr hinnehmen wollen, das wissen auch viele Brutbetriebe und Züchter. Kürzlich verkündete der Zentralverband der Deutschen Geflügelwirtschaft (ZDG) seine ehrliche, aber auch realistische Einschätzung. „Unser ausdrückliches Bekenntnis gilt: Wir wollen lieber heute als morgen aus dem Kükentöten aussteigen“, heißt es in der Pressemitteilung. „Ohne praxistaugliche Alternative geht das aber nicht.“ Der ZDG setzt darauf, dass möglichst bald eine entsprechende Technik flächendeckend für alle Brütereien in Deutschland zur Verfügung stehen wird.
IV. Ohne Querfinanzierung geht’s nicht
Im Zweifel muss der Ei- und Geflügelbetrieb bis zur Einführung moderner Geschlechtssortierer zunächst die Mehrkosten für die fair behandelten Bruderküken auf den Endpreis aufschlagen. Da die Mast eines Bruderhahns etwa 95 Prozent teurer und seine Aufzucht etwa viermal so viel Zeit benötigt, wäre das Geflügelfleisch am Ende schier unbezahlbar. Aus betrieblicher Sicht funktioniert nur das System der Querfinanzierung mittels Preisaufschlag von 4 bis 40 Cent auf Eier der Legehennenlinie oder mittels Brutei-Sortiermaschinen, die sich ebenfalls im Endpreis pro Ei und Geflügel spiegeln. Oder der Staat subventioniert ganz einfach die Anschaffung serienreifer Brutei-Sortiermaschinen, die Experten zufolge ab Frühjahr 2020 zur Verfügung stehen könnten.
V. Offen ist, welches Verfahren sich durchsetzt
Letztlich profitiert auch der Verbraucher davon, wenn die Kosten für die Nutztierhaltung möglichst gering bleiben. Die Einführung von technischen Verfahren, die das Kükengeschlecht bereits im Ei sicher bestimmen, geht nur schleppend voran, weil das Prozedere eben nicht ganz so einfach gelingt, wie Kritiker der Kükentötung meinen. Neben der flächendeckenden Verfügbarkeit muss das Sortiersystem täglich rund 100.000 Eier prüfen können und das mit einer Genauigkeit von über 95 Prozent und einer allenfalls geringfügig verminderten Schlupfrate weiblicher Eier.
VI. Wird alles besser?
Erst vor kurzem preschte das System der hormonellen Brutei-Bestimmung, das vom Bundeslandwirtschaftsministerium mit fünf Millionen Euro gefördert wurde, zur Marktreife vor –zum Jahreswechsel 2018/2019 ging es in Serie mit in über 200 Rewe– und Pennymärkten verkauften Eiern. Doch allzu lang dürfte auch das Verfahren der spektroskopischen Geschlechtsbestimmung nicht mehr auf sich warten lassen, hinter dem mit Peter Wesjohann einer von Europas größten Geflügelfleischproduzenten steht. Ungeklärt ist bislang, bis zu welchem Bruttag die Geschlechtsbestimmung erfolgen muss.
Fazit
Ja, zweifellos, das Kükentöten macht dringend tiefgreifende Maßnahmen erforderlich. Dabei sollten sich Verbraucher aber darauf verlassen können, dass die Preise für Eier und Geflügelprodukte dadurch nicht ins Unermessliche steigen. Den Verbrauchern bleibt, sich über die Produktionsbedingungen zu informieren, unmoralische Unternehmen offen zu kritisieren und den Kauf ihrer Produkte zu boykottieren. Das probateste Mittel aber, um das Kükentöten früher zu beenden, ist der bewusste Verzicht auf jedes „unnötig“ verspeiste Ei und Geflügelfleisch, bis sich ein flächendeckendes Verfahren durchsetzen kann.