ContraDie Bedeutsamkeit von Zahlen wird verkannt
Wir räumen tatsächlich relevanten Zahlen einen zu geringen Stellenwert in unserer politischen Debatte ein. Aber wir brauchen Fakten, um einen demokratischen Diskurs zu führen. Andernfalls wird aus einem Meinungsbildungsprozess Sprengstoff für eine geeinte Gesellschaft.
Eine immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich, die Klimakrise, eine viel zu große Korrelation zwischen der sozialen Herkunft und dem Grad des Bildungsabschlusses – die aktuellen Herausforderungen sind vielfältig. Was wir jedoch haben, sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse, um diese Krisen zu registrieren und um den Umgang mit ihnen zu erlernen. Es kommt also darauf an, dass und wie wir denjenigen Zahlen den Stellenwert in der politischen Debatte einräumen, den diese bestimmten Zahlen wirklich verdienen.
Am besten illustriert sich das am Beispiel der Korrelation von sozialer Herkunft und Bildung: Die Bildungsexpansion hat in Deutschland insgesamt zu einer Steigerung des Bildungsniveaus in allen sozialen Schichten geführt. Obwohl dabei geschlechtsspezifische Ungerechtigkeiten in Teilen abgebaut werden konnten, bleibt die soziale Herkunft für den Bildungsweg hoch relevant: 56 Prozent der Schüler*Innen aus Nicht-Akademiker-Familien verlassen die Schule bereits mit dem Abschluss der 9. oder 10. Klasse. Bei Kindern aus “bildungsnahen Schichten“ beträgt der Anteil der Abgänger*Innen nur 22 Prozent. Diese Mehrheit zielt mindestens auf das Abitur. Dieses Bild zieht sich bis zum Ende des Bildungsweges durch: Gerade mal sechs von 100 Arbeiterkindern beginnen ein Hochschulstudium, während 49 von 100 Gymnasiast*innen aus einkommensstarken Familien eine Universität besuchen.
Der Stellenwert der Zahlen in der politischen Debatte
Wir alle wissen es längst: Die Erhebung ist bedenklich und alarmierend, wenn man sich vor Augen hält, dass der soziale Status hierzulande nicht nur den Bildungserfolg, sondern auch die späteren Berufsaussichten der Kinder und ihre soziale Integration maßgeblich prägt. Vor diesem Hintergrund müsste die Schaffung eines gerechten Bildungssystems höchste Priorität einer Bundesregierung haben. Aber ist dem so? Die Ausgaben im Bundeshaushalt nach Ressorts im Jahr 2022 zeigen etwas anderes: Lediglich 20 Milliarden des Haushalts fließen in das Bundesministerium für Bildung und Forschung, während allein für Leistungen an die Rentenversicherung 80 Milliarden vorgesehen wurden.
Allerdings reicht eine bloße Erhöhung der Ausgaben nicht aus. Es bräuchte strukturelle Reformen, zum Beispiel bei der staatlichen Ausbildungsförderung. Bisher besteht das Bafög einerseits aus einem staatlichen Zuschuss, der andere Teil entspricht einem Darlehen, das die Student*innen nach Abschluss ihres Studiums zurückzahlen müssen. Es ist offensichtlich, dass das damit verbundene Wagnis, ein Darlehen aufzunehmen, durch Studierende oder Auszubildende aus einkommensstarken Familien häufiger in Kauf genommen wird als von solchen aus einkommensschwächeren Haushalten. Eine naheliegende Reform wäre, das Bafög zu einem rein staatlichen Zuschuss umzuwandeln. Die Notwendigkeit dieser Änderung wird in der Politik verkannt, diese dramatischen Zahlen werden verkannt, deren Stellenwert wird verkannt – möglicherweise, um eine “Gratismentalität“ zu verhindern?
Das BIP als relevante Zahl?
Eingeräumt werden muss, dass ganz bestimmten Zahlen sehr wohl einen nicht unwichtigen Platz in der politischen Debatte einnehmen. Hierbei handelt es sich vor allem um volkswirtschaftliche Zahlen, insbesondere beim Bruttoinlandsprodukt. Die Erzählung dazu aus den Nachrichten und aus ist der Politik ist bekannt: Steigt das BIP, steigt der Wohlstand der Bürger*Innen, heißt es. Aber ist es wirklich so? Wenn ich mein Auto gegen die Wand fahre und mir ein neues Auto kaufe, dann steigt das BIP, aber geht es mir dadurch auch finanziell besser?
Abgesehen von dem Pandemiejahr 2020 ist das BIP in den letzten Jahrzehnten rasant gestiegen. Nach der gängigen Schilderung wäre also der gesamtgesellschaftliche Wohlstand in den letzten Jahrzehnten gestiegen. Mit einem Blick auf die Vermögensverteilung kommt jedoch mit dem Blick auf den Gini-Koeffizienten ein anderes Bild auf. Dieser beschreibt die ungleiche Verteilung von Vermögen im Land: Beträgt der Koeffizient null, ist das Vermögen gleichmäßig verteilt. Liegt der Koeffizient hingegen bei eins, liegt das gesamte Vermögen in der Hand nur einer Person, es herrscht vollkommene Ungleichverteilung. Aktuell liegt der Gini-Koeffizient bei 0,81. Mag zwar ein Wohlstandswachstum registriert worden sein, wie es das BIP beschreibt, so konzentriert sich dieses Wachstum allerdings in den Händen Weniger.
Demokratische Zahlenkunde
Wir müssen den Zahlen, die keinen oder einen zu geringen Stellenwert im Diskurs haben, einen gerechten Platz einräumen und für mehr Aufmerksamkeit sorgen. Die Politik muss sich an den wissenschaftlichen Erkenntnissen ausrichten. Zahlen sind für einen demokratischen Meinungsbildungsprozess unverzichtbar, denn in einer politischen Debatte, in der Gefühle zu Fakten werden, geht sonst jede Diskussionsbasis verloren.
Sehr spannend und schlüssig entwickelt. Möge deinen Artikel gelesen und beachtet werden um eine demokratischere Demokratie zu wagen!
Danke!