RECLAIMING THE NIGHT oder Wenn Kinder den Krieg träumen
Von Krieg und Vertreibung traumatisierte Kinder werden häufig als hoffnungslose Fälle aufgegeben. Für sie scheint Heilung aufgrund der zu tiefen Wunden keine Möglichkeit zu sein. Eine britische Dokumentation zeigt, dass das nicht stimmt.
„Reclaiming the Night“ wurde am 18. Mai beim GoMental! International Filmfestival in Berlin mit dem ersten Preis ausgezeichnet. Regie führte der britische Kriegsreporter und Filmemacher Daniel Benjamin Wheeler, der in den letzten zehn Jahren u.a. für BBC, Sky News und Bloomberg über Kinderarbeit in Sierra Leone, Frauenrechte in Afghanistan und den IS im Irak berichtete. Seine langjährige Erfahrung nutzte er diesmal, um sich mit einem weiteren Thema von außerordentlicher Dringlichkeit und Relevanz auseinanderzusetzen: die traumabedingten Albträume von Kindern, die von Krieg und Vertreibung betroffen sind.
Der Film beginnt mit Aufnahmen der Universität von Tromsø in Norwegen. Die Arbeit des polnischen Kameramanns Kacper Czubak beeindruckt mit dem Kontrast zwischen universitären Büros und Vorlesungssälen im Innern und der schneebedeckten skandinavischen Landschaften vor den Institutsfenstern. Durch den wiederholten Perspektivenwechsel spiegeln sich beide Stillleben nicht durch den geographischen Standort, sondern durch eine gewisse Stille und Besonnenheit, die sowohl der Natur als auch der Wissenschaft innewohnen.
In 19 Minuten liefert Wheeler nicht nur einen tiefen Einblick in die Forschung und Arbeit des norwegischen Psychologieprofessors Jon-Håkon Schultz, sondern auch eine kraftvolle Hommage an die Fähigkeit der menschlichen Psyche, eine traumatische Vergangenheit zu bewältigen und bewusst zu kontrollieren.
Im Seminar spricht Schultz zu seinen Studierenden über das Buch „Too Scared to Cry“. Lenore Terr’s Werk von 1992 sei der Ausgangspunkt für seine eigene Arbeit gewesen, so Schultz, denn es behandelt das Trauma von 26 kalifornischen Kindern, die 1976 aus ihrem Schulbus entführt und gemeinsam mit dem Busfahrer lebendig begraben wurden. Aber: Alle Kinder überlebten. Darauf baute Terr‘s bahnbrechende Studie über die Auswirkungen von Traumata auf Kindern auf.
Wenn auch nur oberflächlich, so untermauern die wissenschaftlichen Einblicke Schultz‘ jahrzehntelange humanitäre Bemühungen. In Zusammenarbeit mit der Norwegischen Flüchtlingshilfe entwickelte Schultz nämlich das „Better Learning Programme“, das Kindern helfen soll, die durch Krieg und Vertreibung Stress und großes Leid erlitten haben. Durch dieses Programm haben viele vertriebene Kinder, auch in Gaza, deutlich weniger posttraumatisch bedingte Albträume und bessere schulische Leistungen gezeigt.
Darüber hinaus erstreckt sich Schultz‘ Fachwissen auch auf die Auswirkungen der Anschläge in Norwegen 2011, auf ehemalige Kindersoldaten und auf den sexuellen Missbrauch von Kindern. Die Zuschauer*innen werden daran erinnert, dass akademisches Wissen und praktische Hilfe Hand in Hand gehen müssen, um einen echten Unterschied zu erwirken.
Deshalb folgt im Film ein weniger idyllischer Szenarienwechsel, bei dem Wheeler den Professor auf seiner Reise nach Beirut begleitet, wo die brutalen Realitäten von Krieg und seine Auswirkungen auf Kinderseelen, also die vulnerabelsten unter den Opferseelen, plötzlich hautnah greifbar werden.
Im Libanon begegnet er Souad, einem syrischen Mädchen, das durch die brutale Ermordung ihres Onkels durch IS-Kämpfer traumatisiert wurde. Die Animationen, die die Erzählung ihres Erlebnisses visualisieren, machen die schmerzhafte Realität von Millionen von Kindern spürbar und zeigen gleichzeitig die psychologischen Herausforderungen, mit denen sie im Nachhinein konfrontiert sind.
Schultz sitzt mit Souad auf dem Boden, stellt ihr vorsichtig unangenehme Fragen zu ihrem Trauma. Sein Ansatz umfasst eine Reihe von Sitzungen, in denen Kinder ermutigt werden, ihre Albträume aufzuzeichnen, um sie dann in der Sicherheit des Tageslichts bewusst zu beeinflussen und zu verändern. Die Methode zeigt beeindruckende Erfolge: Viele Kinder erleben eine signifikante Reduktion ihrer Albträume, einige sogar bis zu dem Punkt, an dem sie keine mehr haben.
„Ihre Erfahrung können wir nicht ändern. Was wir verändern können, sind ihre Alpträume.“
Prof. Dr. Jon-Håkon Schultz
„Reclaiming the Night“ hebt sich durch eine beeindruckende Raffinesse im Bild und seiner tiefgehenden Humanität hervor. Daniel Benjamin Wheeler nutzt seine langjährige Erfahrung in Kriegsgebieten, um die friedliche Schönheit norwegischer Landschaften als auch die lebendigen Straßen Beiruts einzufangen. Der düstere Schwerpunkt des Films wird in jeder Szene durch die beinahe überwältigende Helligkeit des Sonnenscheins (oder Tageslichts) durchflutet. Die Semantik des Titels wird zur ästhetischen Komponente, in anderen Worten: Die Nacht wird zurückerobert.
Souad war zunächst aus Syrien nach Beirut geflüchtet und wurde dort durch die Hafenexplosion im August 2020 erneut traumatisiert. Diese visuelle Dualität bildet die Kernbotschaft des Films: Trotz der Dunkelheit, die Krieg und Gewalt über die Seelen sehr junger Menschen bringen, gibt es Hoffnung und Heilung durch das Hervorholen dunkler Geheimnisse und tiefer Traumata in das Licht.
In einer Zeit, in der das Leid von Kindern durch Krieg als Kollateralschaden militärischer Operationen in Kauf genommen wird, ist die dargestellte humanitäre Mission eines Hochschulprofessors von unschätzbarem Wert. Denn die erschauernden, aber dennoch hoffnungsvollen Geschichten der Kinder, die Schultz‘ Programm durchlaufen, zeigen, dass es möglich ist, selbständig die Kontrolle über die eigenen Ängste zurückzugewinnen und einen neuen Lebensweg zu beschreiten.
„Reclaiming the Night“ ist gerade jetzt ein unverzichtbarer Film, der uns daran erinnert, dass hinter den Schlagzeilen über Krieg und Vertreibung echte Menschen stehen, deren Leben und Träume zerstört wurden, die aber dennoch die Kraft finden, weiterzumachen. Durch die Linse von Professor Schultz‘ bahnbrechender Arbeit bietet der Film einen wichtigen Beitrag zum Verständnis von Traumabewältigung und betont die Notwendigkeit fortlaufender humanitärer Bemühungen in einer zunehmend zerrissenen Welt.
Durch Schultz’ Forschung und dem „Better Learning Programme“, das weltweit adaptiert wurde, konnte bis zur Filmpremiere über einer Million Kindern weltweit geholfen werden, ihre Alpträume besser zu bewältigen.