Scheidung schwer gemacht
Indien gehört zu den Ländern mit den niedrigsten Scheidungsraten. Frauen, die sich scheiden lassen, haftet dies als Makel ein Leben lang an. Reeja aus dem südindischen Kochi hat es trotzdem getan.
Reeja ist glücklich. Jedenfalls sagt sie das heute – nach allem, was passiert ist. „Ich liebe es, hungrige Menschen zu bekochen“, sagt sie, während sie mit schnellen, fließenden Bewegungen Gemüse in kleine Stücke schneidet. Kürzlich hat sie ihr Restaurant „Celestial Café“ eröffnet, direkt am alten Hafen von Kochi, einer Stadt im Süden Indiens. Noch ist es ruhig, die blaue Farbe an den Fenstern wirkt, als müsse sie noch trocknen. Das Geschirr in den Regalen in der Küche ist so gut wie unbenutzt. „Kochen für andere – das ist mein Ding“, betont wieder die energische, impulsive Frau, die 36 Jahre alt ist, aber aussieht wie 25. „Wenn mir Leute sagen, dass es ihnen schmeckt, werde ich richtig hibbelig. Das macht mich glücklich.“
Es ist erst ein paar Jahre her, da sah Reejas Alltag noch ganz anders aus. Reeja trug ein Kopftuch, betete fünf Mal am Tag, ging in die Moschee, half ihrer Mutter im Haushalt. Mit 17 Jahren heiratete sie – eine arrangierte Ehe, wie sie bei Hindus und Muslimen in Indien Gang und Gäbe ist. „Da hatte ich gerade die Schule beendet und mich an der Universität beworben“, erzählt sie. „Ich hatte sogar schon die Aufnahmebestätigung bekommen.“
Doch aus dem Studium wurde nichts. Stattdessen zog die junge Frau, wie es in Indien Tradition ist, zur Familie ihres Mannes. Es dauerte nicht lange, da wurde sie schwanger, brachte erst einen, kurze Zeit später ihren zweiten Sohn zur Welt. Reejas Mann hatte finanzielle Probleme und trank. Wenn es ganz schlimm war, schlug er sie. „Ich war nicht ich in dieser Zeit“, erinnert Reeja sich. „Ich war wie eine Puppe. Da war nichts Lebendiges in mir.“
Nur 13 von 1.000 verheirateten Paaren lassen sich scheiden
Reejas Stimme stockt, als sie von dieser Zeit in ihrem Leben erzählt. Sie möchte nicht sagen, was genau passiert ist. Aber eines Tages, das erzählt sie, brachte etwas das Fass zum Überlaufen. Sie zog mit ihren Söhnen zurück zu ihren Eltern und tat das Undenkbare: Sie reichte die Scheidung ein.
Das ist in Indien alles andere als normal. Trotz Modernisierung und der Orientierung an westlichen Industrienationen zumindest in den Großstädten gehört Indien nach wie vor zu den Ländern mit den niedrigsten Scheidungsraten. Schätzungen zufolge lassen sich in Indien von 1.000 verheirateten Paaren gerade einmal 13 davon scheiden. In Deutschland lag die Scheidungsrate 2015 bei rund 41 Prozent! Reeja ist überzeugt: Das liegt nicht daran, dass verheiratete Paare in Indien glücklicher sind. Die sozialen Konsequenzen einer Scheidung sind nur viel größer als in Deutschland – zu groß für die meisten.
Wer sich in Indien scheiden lässt, wird stigmatisiert, vor allem, wenn es die Frauen sind, die die Scheidung einreichen. Die Ehe hat in Indien einen großen Stellenwert. Sie verbindet nicht nur das Paar, sondern auch die Familien der beiden Vermählten. Der Großteil der Ehen in Indien wird nach wie vor von den Eltern arrangiert. Die Geringschätzung der Frau zeigt sich durch die Mitgift, die der Brautvater traditionell an die Familie des Bräutigams zahlen muss. Gerade bei ärmeren Familien sind die Zahlungen eine große Belastung für die Brautfamilie und treiben sie oft bis an den Rand des finanziellen Ruins. Streitigkeiten um die Mitgift führen nicht selten dazu, dass Frauen misshandelt, verstoßen oder sogar getötet werden.
Ein lebenslanger Makel
Als Reeja mit ihren Söhnen im Arm an die Haustür ihrer Eltern klopfte, um ihren Mann zu verlassen, waren diese alles andere als begeistert. Von der Grausamkeit des Mannes wollten sie nichts wissen. Stattdessen rieten sie ihr, es noch einmal mit ihm zu versuchen. Der Makel der Scheidung, er würde der kompletten Familie lebenslang anhaften, mahnten sie.
Aber Reeja kämpfte um ihre Freiheit. Mehrere Jahre dauerte der Scheidungsprozess. In dieser Zeit musste sie mehrmals vor Gericht erscheinen und sich rechtfertigen: Warum ihre Ehe in die Brüche gegangen sei. Warum sie ihrem Mann keine zweite Chance gebe. Wie sie als alleinerziehende Frau ihren Lebensunterhalt bestreiten wolle. „Am Richtertisch saßen natürlich nur Männer“, erzählt sie. „Niemand aus meiner Familie hat mich unterstützt.“
In dieser Zeit legte Reeja auch ihr Kopftuch ab. „Endlich war ich frei.“ Sie traf sich oft mit Freunden, machte eine Ausbildung in traditionellem indischen Tanz. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie sich als Kellnerin in einem Café.
Reeja hat es geschafft
Reeja unterbricht das Gespräch, neue Gäste sind gekommen. Flink verschwindet sie in der Küche, füllt zwei Gläser mit hausgemachtem Eistee auf. Mit ihrem Unternehmen verdient sie nicht nur ihr Geld, sondern verschafft sich auch einen gewissen Status und Unabhängigkeit.
Reeja hat es geschafft. Trotz der Widerstände aus ihrer eigenen Familie, trotz Scheidung und obwohl sie eine Frau ist. Widerstände gebe es jedoch auch heute noch, sagt sie. Etwa wenn sich männliche Gäste nicht von ihr bedienen lassen wollen. Ihr nicht glauben, dass das Café ihr allein gehört. Wenn der Gemüsehändler horrende Preise von ihr verlangt und niemand sie so richtig ernst zu nehmen scheint. „Das Hauptproblem in Indien ist: Es gibt keinen Respekt“, sagt Reeja. „Viele Männer respektieren ihre Frauen nicht. Sogar dann nicht, wenn sie sie lieben.“
Doch dann muss Reeja lächeln. Auch das mit den Männern in ihrem Leben hat sich noch zum Guten gewendet. Denn eines Tages kam Matt in das Café, in dem sie kellnerte, ein junger Reisender aus England. Heute sind die beiden verheiratet, aber „western style“, fügt Reeja hinzu. Auch ihre Mutter gewöhnt sich langsam an Reejas neues Leben. Erst gestern hat sie ihre Tochter in ihrem Restaurant besucht.