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Sotschi: Im Gespräch mit Reinhard Krumm

Von Sagwas-Redaktion / 20. Februar 2014
picture alliance / dpa | Jan Woitas

Am zurückliegenden Sonntag gingen die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi zu Ende. Was bedeuten die Spiele für Russland, wie geht es danach weiter? Wir und ihr fragten dazu im einstündigen Livechat Dr. Reinhard Krumm. Dr. Reinhard Krumm, geboren 1962, leitet seit Ende 2012 das Referat Mittel- und Osteuropa der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Seit 2008 ist der […]

Am zurückliegenden Sonntag gingen die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi zu Ende. Was bedeuten die Spiele für Russland, wie geht es danach weiter? Wir und ihr fragten dazu im einstündigen Livechat Dr. Reinhard Krumm.

Dr. Reinhard Krumm, geboren 1962, leitet seit Ende 2012 das Referat Mittel- und Osteuropa der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Seit 2008 ist der promovierte Historiker Lehrbeauftragter für osteuropäische Geschichte an der Universität Regensburg. Für die FES leitete er die Büros in Zentralasien mit Sitz in Taschkent (2003-2007) und in der Russischen Föderation mit Sitz in Moskau (2007-2012). Bevor Reinhard Krumm seine Tätigkeit bei der FES aufnahm, schrieb er für deutsche Medien, u.a. als Russland-Korrespondent für den SPIEGEL aus Moskau.

Das Chatprotokoll:

Am Anfang wurde ja viel über Menschenrechte, die Zustände auf den Baustellen etc. berichtet. Doch nach ein paar Tagen ging es nur noch um Medaillen. Damit dürfte Putins Kalkül ja voll aufgegangen sein, oder?

Da müsste man sich überlegen, was denn Putins Kalkül gewesen ist. Die Verbindung Olympia – Menschenrechte war vermutlich nicht sein Kalkül. Ich glaube, es ging der russischen Regierung und damit auch Putin darum, ein neues Russland darzustellen und in Sotschi haben wir dieses neue Russland gesehen. Da gibt es sicherlich einiges Positives zu berichten, aber die Realität in Russland haben wir auch gesehen… Wir haben jedoch genauso Olympische Spiele gesehen, über die sich die meisten Sportler zumindest wohl ganz aufrichtig gefreut haben.

Unsere deutschen Athleten lassen sich zitieren mit Sprüchen wie „Selten so schöne Spiele erlebt!“. Das hört Putin doch gern, oder?

Zunächst einmal würde ich argumentieren, dass Russland nicht Putin ist. Dass die Spiele für die Sportler im Großen und Ganzen ordentlich, ja vielleicht sogar gut verlaufen sind. Das ist ja keine Frage. Eine andere Sache ist dann immer wieder die Bewertung der politischen Lage in Russland. Im Idealfalle hätte sich Russland eine Feier vorgestellt, in der ein Bild des Landes entstanden wäre, welches ein bisschen erinnert hätte an die Atmosphäre in Deutschland bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2006: Weg mit den alten Klischees und die Präsentation eines Landes, wie es tatsächlich funktioniert! In Russland ist das halt schwieriger, weil die Realität auch während Olympischer Winterspiele nicht ausgeblendet werden kann.

Ist es nicht bezeichnend, wenn eine Veranstaltung, die dem Frieden und der Völkerverständigung dienen soll, von mehr als tausend Polizisten und Soldaten gesichert werden muss?

Der Widerspruch liegt auf der Hand. Und doch ist, glaube ich, Olympia oder jede sportliche Großveranstaltung nur noch durch ein Großaufgebot von Sicherheitskräften zu schützen. Sotschi ist da keine Ausnahme. Man muss sich insgesamt Gedanken darüber machen, inwieweit Spiele in einem solchen Rahmen stattfinden, um einen solchen Widerspruch nicht aufkommen zu lassen.

Wieso finden die Spiele Ihrer Meinung nach im Kaukasus statt? Gibt es nicht sicherere Orte in Russland?

Der Nordkaukasus ist schon eine Wintersportregion. Schon immer gewesen um den Elbrus herum, eigentlich der größte Berg Europas. Und zu diesen Wintersportgegenden gehört eben auch Sotschi. Insgesamt ist die Schwarzmeerküste eine der schönsten Gegenden Russlands. Und von der Distanz auch relativ gut zu erreichen. Denn es bedarf für Olympische Winterspiele schon der Berge und die sind in Sotschi eben gegeben. Hinzu kommt, dass der Nordkaukasus eine besondere Aufmerksamkeit Russlands genießt. Eigentlich gilt der Nordkaukasus als ein Krisengebiet: Wir alle erinnern uns an die Kriege in Tschetschenien, an die Terroranschläge in der Region noch kurz vor den Olympischen Winterspielen in Wolgograd (eigentlich nicht Kaukasus)… Insofern ist das Kalkül Russlands gewesen, friedliche Spiele in eine unruhige Region zu bringen. Zumindest die Absicherung ist geglückt. Meines Wissens hat es keine Terroranschläge gegeben. Aber ob der Kaukasus durch Olympische Winterspiele befriedet werden kann, ist gleichwohl fraglich.

Ist das Experiment gelungen? Konnte Russland sein Image auffrischen?

Ich glaube, die Umstände sind ausgesprochen schwierig. Wir erleben gerade in Europa den Wunsch das Europa zwischen der EU und Russland neu zu vermessen. Mit anderen Worten: Die EU, Deutschland, überlegen sich, wie die Zukunft der Länder dazwischen aussehen kann… Eines dieser Länder ist die Ukraine und die Ereignisse in der Ukraine haben auch die Olympischen Winterspiele überschattet. Das war nicht vorherzusehen. Aber da auch die Ukraine eng mit Russland verbunden ist, haben Olympische Winterspiele in Sotschi eben weitaus mehr Bedeutung für die Region als Olympische Winterspiele zum Beispiel in Asien oder Nordamerika.

Nach Beurteilung von Teilnehmern hat sich Russland als ein offenes Land dargestellt. Als ein freundliches Land, was es auch tatsächlich ist. Aber die Art und Weise wie Spiele organisiert werden, wie man mit der Gesellschaft umgeht, das war eben während der Winterspiele auch zu beobachten. Insofern hat sich ein Russland präsentiert, wie es im jetzigen Augenblick tatsächlich ist: Nämlich widersprüchlich und nicht einfach nur gut oder nur schlecht.

Was wird denn jetzt mit den Spielstätten passieren?

Das ist meines Wissens nach ein Teil des Programms, das eine Olympia-Stadt dem IOC, also dem Internationalen Olympischen Komittee, vorstellen muss. Üblich ist, dass die Schlafstätten der allgemeinen Bevölkerung zugute kommen, entweder als neue Wohnungen oder als Studentenwohnungen. Das wird auch im Falle von Sotschi nicht anders sein.

Ich habe gerade die pompöse Abschlussfeier in der ARD live übertragen gesehen. Wieso wird hier Russland so eine prominente Bühne geboten?

Ich glaube nicht, dass die prominente Bühne allein Russland galt, sondern sie gilt den Olympischen Winterspielen, ganz egal, wo sie stattfinden. Aber natürlich ist Russland im Augenblick wieder sehr im Fokus und deshalb schaut man nicht nur auf Olympia und die Spiele, sondern auch auf das Land hinter der Kulisse. Und beides zusammen ergibt, wie bereits erwähnt, ein Bild von einem doppelten Russland. Damit meine ich ein offizielles Russland und ein Russland geprägt von der Gesellschaft.

Macht sich das IOC mit der Trennung von Sport und Politik nicht mitschuldig an Menschenrechtsverletzungen, wenn es Ländern wie Russland eine Plattform bietet sich so „positiv“ zu präsentieren?

Naja, die Frage ist, wie sich ein Land darstellen kann und wie es wahrgenommen wird. Die Frage geht eigentlich an das IOC. Aber aus meiner Sicht liegt es an den Gästen, nachzufragen, wie es in diesem Lande zugeht. Das ist ja auch geschehen. Die Reportagen über Russland, und zwar nicht nur aus Sotschi, haben in den letzten zwei Wochen gewaltig zugenommen und wir haben ein sehr vielfältiges Russland kennengelernt. Das wäre vermutlich ohne die Winterspiele so nicht geschehen. Ich bin mir noch nicht mal sicher, ob die russische Regierung oder Russland insgesamt es darauf angelegt hätte, ein glorreiches Russland vorzustellen. Ich glaube, die Zeiten sind vorbei, durch zwei Wochen Sportereignis ein völlig neues Image darzustellen.

Was wäre ein angemessener Umgang mit Russland? Verstehen wir die russische Ideologie nur einfach nicht? Wollen Putin & Co. eigentlich etwas Gutes?

Es gibt aus meiner Sicht im Augenblick keine russische Ideologie. Wir müssen begreifen, dass die 1990er Jahre, also die Zeit nach dem Fall der Mauer, in Russland und den anderen europäischen Staaten völlig unterschiedlich bewertet wird. Während in Deutschland aber vor allen Dingen in den zentraleuropäischen Ländern die ’90er Jahre eine großartige Chance des Neuanfangs ermöglichten, verstehen viele Russen die ’90er Jahre als die Zeiten der Wirren – diese Bezeichnung stammt eigentlich aus dem 17. Jahrhundert.

Die ’90er Jahre in Russland werden als Schwächung verstanden, als eine vertane Chance für einen demokratischen Aufbau geeint mit einem wirtschaftlichen Aufschwung. Aus diesem Verständnis heraus hat Russland, und damit meine ich sowohl Staat als auch Gesellschaft, die Erkenntnis gewonnen, sich wieder auf seine eigenen Stärken zu berufen und eine Annäherung an westliche Strukturen sehr genau zu überdenken. Damit müssen wir nicht die Diskussion beginnen, ob Russland ein europäischer Staat ist. Das ist er natürlich. Russland hat eine europäische Entwicklung durchlaufen. Aber es ist ein europäischer Staat, der aufgrund seiner Geschichte, seiner jüngsten Geschichte, erneut versucht, zum Teil zumindest einen eigenen Weg zu gehen. Und damit ist Russland ein ausgesprochen schwieriger Partner, mit dem es sich aber aufgrund seiner Größe und seiner Bedeutung für Europa weiterhin lohnt, zu reden. Auch wenn es manchmal sehr, sehr schwierig ist.

Sie waren ja lange als Russlandkorrespondent für den SPIEGEL in Moskau. Wie sehen Sie heute die Berichterstattung über Russland in den deutschen Medien?

Es gilt, dass die Berichterstattung sowohl in den ’90er Jahren als auch jetzt faktenreich und detailliert ist. Es ist nur im Augenblick die Hoffnung vergangen, die es vermutlich in den ’90er Jahren bei nicht wenigen Russlandbeobachtern gab, dass das Land endlich dort ankommt, wohin es sich vor 300 Jahren auf den Weg gemacht hat. Mit anderen Worten, Russland hat sich unter Peter dem Großen auf eine Reise begeben in Richtung Modernisierung und ist bis heute – laut einigen Kritikern Russlands – nicht angekommen. Als Berichterstatter in einem Riesenland wie Russland zu arbeiten und zu analysieren, trägt natürlich immer wieder die Hoffnung in sich, dass das Verhältnis zur EU sich ständig auf einem Weg der Besserung befindet. Aber das Verhältnis ist eben nicht permanent besser geworden. Es ist – zumindest im Augenblick – deutlich schlechter geworden. Ja, es fehlt an politischen Kanälen, die es sogar in den ’70er Jahren gegeben hat. Noch immer gibt es jedoch kaum ein Land, über das in Deutschland so ausgiebig berichtet wird wie Russland. Das lässt sich nur begrüßen.

Nach dieser Parade sportlicher Unschuld gibt es in der Presse diverse Spekulationen, dass ein neuer Kalter Krieg bevorsteht. Was denken Sie?

Den Zusammenhang habe ich nicht ganz verstanden. Aber tatsächlich bezeugen die Ereignisse in der Ukraine, denn darauf ist die Frage wohl ausgerichtet, dass es tatsächlich zu einem Gedankenaustausch kommen muss, sowohl in Russland als auch in der EU, wie die Länder zwischen den beiden sich organisieren sollen: Zunächst einmal ist das die Sache der Länder selber. Aber beide Seiten, also ich meine Russland und die EU, sollten sich – wenn es denn irgend geht – zurückhalten, diese Länder vor die Wahl zu stellen. Ein Land wie die Ukraine, so zeigen die jüngsten Ereignisse, ist darauf nicht vorbereitet. Wie könnte es auch darauf vorbereitet sein? Nach wie vor gibt es bemerkenswerte Kontakte von Russland in die EU, von der EU nach Russland. So etwas hat es meines Wissens in der gesamten vergangenen Geschichte nicht gegeben. Man möchte wünschen, dass Russland die Zukunft Europas aktiv mitgestalten möchte und mit „aktiv“ meine ich natürlich in Richtung eines friedlichen Europas, das in aller Konkurrenz zu anderen Regionen auch in Wohlstand leben kann.

Und was wird mit den Stadien passieren? Es gibt ja nicht nur die Schlafstätten. Von den Winterspielen 1984 in Sarajevo sind nur noch Ruinen übrig.

Was die Stadien betrifft, so wird zumindest ein Stadion meines Wissens nach in ein Fußballstadion umgewandelt werden, was dann für die in Russland 2018 stattfindende WM genutzt werden soll. Ansonsten, so habe ich mir sagen lassen aus den Erfahrungen in London, können Stadien inzwischen abgerissen und an anderer Stätte wieder aufgebaut werden. Aber ohne Frage besteht in Sotschi auch die Gefahr, dass nicht alle Stadien und Sportstätten die nächsten paar Jahre überleben werden.

Zeigt der Umgang der EU und des IOC mit Russland nicht genau das Problem? Nach dem Motto: Wir können unseren eigenen Weg gehen. Niemand kann uns aufhalten. Wir kriegen sogar ein sportliches Großereignis, trotz Gesetzen, die gegen die UN-Menschenrechtskonvention verstoßen?

Die Frage, wofür Olympische Spiele gut sind oder wie Olympische Spiele vergeben werden, ist erneut eine Frage an das IOC. Wenn ein Land bereit ist, diese Spiele auszurichten, dann begibt es sich auch in die Gefahr, dass das Land genau untersucht wird, dass über das Land berichtet wird, dass man mit Menschen in dem Land spricht. So geschehen auch in Sotschi. Kein Land kann die Berichterstattung monopolisieren und das hat auch die Berichterstattung über Sotschi gezeigt, die sehr vielfältig war. Insofern hat die Welt über Russland Vieles erfahren, was vielleicht ohne die Olympischen Winterspiele so konzentriert hätte gar nicht wiedergegeben werden können.

WM 2018 in Russland… wir können uns also an große Sportereignisse dort gewöhnen. Wieder mit ähnlichen „Begleiterscheinungen“?

Die Entscheidung, die WM 2018 nach Russland zu vergeben, ist gefallen. Russland ist ein wahnsinnig fußballbegeistertes Land und das steht erst einmal an erster Stelle. Das heißt, die Begeisterung der Menschen, die Fußballelite der Welt zu sehen, wird riesengroß sein. Natürlich wird jedes Land die Chance nutzen, sich gut darzustellen. Auch Russland natürlich, insbesondere Russland. Aber aufgrund der hohen Anzahl von Journalisten, von Gästen, von Besuchern… ist auch das wiederum eine Möglichkeit, mit dem Land in Kontakt zu treten und mit den Leuten zu diskutieren. Russland ist kein Monolith, die Diskussionsfreudigkeit ist hoch und die Gesellschaft hoch diversifiziert, mit anderen Worten: Auch dort gibt es keine einheitliche Linie.

Ist es denn nicht auch in Ordnung, wenn Russland seinen eigenen Weg geht? Der Weg, den Europa geht, scheint ja auch nicht gerade der richtige Weg zu sein, wenn man sich einmal die Armut, die Ausbeutung und die Verteilung der Vermögen ansieht.

Das ist genau ein Argument, das von russischen Politikern, aber auch aus der Gesellschaft kommt. Es gibt auch eine wissenschaftliche These dazu: die „Nachholung der Modernisierung“. Also nicht die Fehler zu begehen, die andere Länder, die sich bereits in der Modernisierung befanden, zu wiederholen. Im Augenblick hat die EU gewaltige Aufgaben vor sich und die russische Regierung ist sich diesen Schwierigkeiten durchaus bewusst und glaubt, dass die Strahlkraft des europäischen Weges deutlich abgenommen hat. Nun muss man dazu sagen, dass es gegenüber Russland zwei große Arbeitshypothesen gibt. Die erste lautet: Das Land ist komplett korrupt, ist ein Monolith und man kann mit Russland, mit Russlands Elite nicht zusammenarbeiten. Die zweite Hypothese ist: Russland befindet sich nach wie vor in einer Transformation. Gerade innenpolitisch, aber auch sozial- und wirtschaftspolitisch. Und es gibt durchaus, sowohl in der Gesellschaft als auch in staatlichen Institutionen, reformwillige Menschen, die tatsächlich nach neuen Wegen suchen. Die Wahrheit liegt – wie fast immer – zwischen diesen beiden Extremen.

Heute beim Aufruf von SPIEGEL Online: Steinmeier lobt die Rolle Russlands bei den Ukraine-Gesprächen, Sotschi Abschlussfeier… irgendwie vier von fünf Nachrichten hatten Russland zum Bestandteil: Ist Russland wieder auf dem Weg zum Global Player?

Aufgrund der Größe, aufgrund auch der militärischen Macht, weniger aufgrund der wirtschaftlichen Macht, aber aufgrund der Vernetzung und nicht zuletzt durch den Export von Rohstoffen… hat Russland nie aufgehört, eine internationale Rolle zu spielen. Betrachtet man allein die politische Lage in Russland, möchte man das manchmal verneinen. Aber Tatsache ist, dass es international eine Binsenweisheit ist, dass so manche Probleme ohne Russland kaum zu lösen sind. Das bezieht sich zum einen auf Länderprobleme wie erneut die Ukraine, die östliche Partnerschaft, aber jüngst auch Syrien oder der Iran.

Aber es bezieht sich auch auf größere Themen wie Nahrungsmittelsicherheit, wie Energie. Insofern täuscht das Bild tatsächlich nicht im Augenblick. Auch wenn in Russland, auch das ist eine Kritik, die man immer wieder vorbringen sollte, die Entscheidungsträger selten zu konstruktiven Lösungen beitragen. Das wiederum hat mit dem Verständnis zu tun, von dem ich bereits berichtet habe. Nämlich das Gefühl, in den ’90er Jahren an den Rand eines Zusammenbruchs getrieben worden zu sein. Aus russischer Sicht war nämlich nicht das eigene Land Schuld daran, sondern die Weltpolitik in dem Augenblick, insbesondere die alleinige Weltmachtstellung der USA. Seitdem ist aus Moskauer Sicht viel falsch gelaufen, nicht zuletzt die Militäreinsätze in Afghanistan und im Irak. Und Russland fühlt sich als ein Land, das vor diesen Eingriffen immer gewarnt hat und mit den Resultaten auch nicht zufrieden ist.

Und der russische Weg heißt dann, dass man die Meinungsfreiheit einschränken und Gesetze gegen „homosexuelle Propaganda“ erlassen darf? Dafür werden andere Staaten doch sanktioniert? Warum Russland nicht?

Die Frage der Sanktionen wird immer sehr schnell gestellt, als ob es das Allheilmittel ist. Den russischen Weg auf ein sehr eingeschränktes Verhältnis zur Gesellschaft zu reduzieren, ist sicherlich nicht das, was wir in Westeuropa gutheißen können. Aber die Gesellschaft in Russland ist anders sozialisiert worden als westliche Gesellschaften. Das muss man einfach hinnehmen. Nicht hinnehmen muss man, dass dieses Verständnis in Gesetze umgewandelt wird. Man würde darauf hoffen, dass die russische Gesetzgebung sich an Werte hält wie Offenheit und Toleranz, was eigentlich auch in Russland geschätzt wird.

In Russland gibt es schätzungsweise um die 20 Millionen Muslime. Die Toleranz insgesamt, die der Christen gegenüber den Muslimen und andersherum, ist bemerkenswert. Ghettos, wie wir sie in westeuropäischen Städten kennen, wird man weder in St. Petersburg noch in Moskau finden. Aber auch dort gibt es Unterschiede. Bevölkerungsteile, die aus dem nördlichen Kaukasus kommen, werden in den zentralrussischen Städten oftmals mit sehr viel Skepsis, um es gelinde zu sagen, aufgenommen. Der russische Sonderweg, den es immer gegeben hat, ist eine Mischung aus Trotz gegenüber einer westlichen Modernisierung und der Überzeugung, dass ein großes Land sich selbst eigene Regeln geben kann. Und die Werte die es dabei gibt, sind oftmals gar nicht so unterschiedlich.

Wie schafft es eigentlich diese eine Gruppe von Aktionskünstlerinnen (Pussy Riot, Anm. d.R.), international so viel PR für die eigenen Aktionen zu bekommen? Anderen Aktivisten gelingt dies ja nicht.

Der Grund liegt sicherlich darin, dass Russland aufgrund der innenpolitischen Ereignisse seit dem Machtwechsel von Medwedew zu Putin äußerst kritisch beobachtet wird. Da passt es sehr gut ins Bild, wenn drei sehr engagierte Vertreterinnen der Zivilgesellschaft dem Staat den Spiegel vorhalten. Aus meiner Sicht ist die Reaktion in westeuropäischen Städten auf Pussy Riot jedoch völlig aus dem Rahmen gefallen. Gleichwohl war auch die Strafe, die die Aktivistinnen erhalten haben, völlig überproportionalisiert. Aufgrund dieses gegenseitigen Hochschaukelns haben diese Aktivistinnen eine Prominenz erhalten, die eben durch das harte Durchgreifen im eigenen Lande noch gesteigert wurde. Es gibt, das muss man dazu sagen, eine nicht geringe Zahl von engagierten Aktivistinnen und Aktivisten, die sich gegen die Mühlen der täglichen Bürokratie, die eben oftmals nichts mit Gesetzen zu tun haben, auseinandersetzen, wehren und eigentlich für ihre Energie zu bewundern sind. Ihre Arbeit in Richtung eines demokratischen und offenen Landes ist genau so bemerkenswert wie die ihrer Kolleginnen und Kollegen in anderen Ländern.

Wer hat denn sonst noch in Sotschi protestiert?

In Sotschi haben unter anderem Umweltschützer protestiert, die sehr unzufrieden waren mit der Vorbereitung und dem bisweilen sehr leichtsinnigen Umgang mit der Natur. Vermutlich sind Olympische Winterspiele ohne groben Einfluss in die Natur kaum mehr möglich, aber für Sotschi war so ein Eingriff etwas Neues und umso schwieriger zu verstehen. Deshalb gerade der Protest von Umweltschützern.

War es nicht ganz schön verlogen, über Eishockeyspieler und Rodler freudestrahlend zu berichten, während in Kiew über 70 Menschen starben?

Eine ganz schwierige Frage. Ohne sich mit dem Kodex des IOC auszukennen, wäre sicherlich eine Gedenkminute oder das Tragen von Trauerflor ein Signal gewesen, um zu zeigen, dass Olympische Winterspiele eigentlich dafür da sind, in einer friedlichen Welt abgehalten zu werden.

Können die Ukrainer „Sotschi“ dankbar sein, dass keine russischen Truppen oder gar Panzer in Kiew eingefahren sind?

Das ist ein bemerkenswerter Reflex, zu glauben, dass Russlands Armee ständig in Alarmbereitschaft ist und nur darauf wartet, in andere Länder einzumarschieren. Ich glaube, diese Gefahr bestand nicht, ob „Sotschi“ oder nicht „Sotschi“.

Glauben Sie, dass Putin in der Ukraine zu Zugeständnissen bereit war, damit zum Finale die Medienaufmerksamkeit wieder auf Sotschi liegt?

Ich glaube, der Einfluss Russlands auf die Ukraine wird überschätzt. Wäre Russland so einflussreich, wären die Ereignisse in der Ukraine nach meinem Dafürhalten anders verlaufen.

Welche Rolle wird denn die Entwicklung in der Ukraine auf unser Verhältnis zu Russland haben?

Das ist die große Frage. In den nächsten Tagen und Wochen bedarf es ausgiebigster Gespräche, um zu verstehen, inwieweit Russland Einfluss auf die Ukraine ausüben wird, um nach wie vor das Großprojekt „Eurasische Union“ umsetzen zu können. Und die EU muss sich darüber Gedanken machen – übrigens genau wie Russland -, inwieweit man ein Land wie die Ukraine vor die Wahl stellen muss: entweder – oder.

Die russische Regierung hat aus meiner Sicht ein gutes Signal gesendet hat, als sie Wladimir Lukin nach Kiew zu Verhandlungen geschickt hat. Ich kenne ihn sehr gut und glaube, dass er die richtige Person für diesen Auftrag gewesen ist. Ja, er hat dem Verhandlungsergebnis nicht zugestimmt, aber meines Wissens mit der Begründung, dass Russland in diesem Prozess nicht von Anfang an dabei gewesen ist. Wir müssen einfach begreifen, dass Russland in diesem Raum, den wir östliche Partnerschaft nennen, Interessen hat. Das heißt aber nicht, dass Russland bestimmen kann, inwieweit sich diese Länder in Zukunft außenpolitisch ausrichten sollen. Alle Länder der östlichen Partnerschaft sind Subjekte und nicht Objekte. Und es gilt nun, mit ihnen und Russland und der EU festzustellen, wie diese Region in Zukunft hoffentlich friedfertig leben kann.

Der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy rief aufgrund #EuroMaidan am 21.02. zum Verlassen der Olympischen Spiele auf. Sein Appell verhallte ungehört. Ist das Politische einfach nicht mehr politisch genug? Wollen sich die Sportler ihr Idyll nicht kaputtmachen?

Ich glaube, Olympische Winterspiele sind tatsächlich eigentlich dafür gedacht gewesen, sich in friedlichen Zeiten im Sport messen zu können. Leider hat es erneut bei Olympischen Winterspielen kriegsähnliche Zustände gegeben. Ich bin mir nicht sicher, ob ein Abbruch der Olympiade das richtige Signal gewesen wäre, denn dann hätte ja der Krieg gewonnen. Aber es wäre sicherlich notwendig gewesen, den Toten zu gedenken.

Bewerten wir die Ukraine in diesem Diskurs nicht über? In Venezuela und Thailand sind parallel ähnliche Ereignisse vorgefallen.

Ja, es gibt im Augenblick leider ganz verschiedene Konflikte in ganz unterschiedlichen Regionen in der Welt. Aber es ist doch klar, dass die Ukraine als ein europäisches Land uns einfach sehr nahe ist. Das Städte mit Namen wie Kiew, Lviv oder Odessa uns sehr viel näher sind und dass uns Schießereien, wie wir sie auf verschiedenen Kanälen sehen konnten, fassungslos machen, weil es erneut in Europa geschieht. Das heißt natürlich nicht, dass andere Kriege uns nicht nahe gehen. Aber die geografische Nähe ist vermutlich doch die Antwort auf die Frage, warum die Ukraine im Augenblick so im Zentrum der Aufmerksamkeit steht.

In einer ARD-Doku konnte man sehen, mit welchen Mitteln die Verwaltung und Justiz daran arbeitete, die Menschen mit ihren Häusern vom Olympiagelände zu bekommen. Wie steht es um die Justiz in Russland, auch mit Blick auf das Pussy Riot-Urteil?

Die Justiz in Russland ist ein Thema, das für sich allein betrachtet einen Chat wert wäre. In Russland gilt, dass Gesetze eigentlich „nur für die Feinde gemacht“ werden. Das ist jetzt sehr salopp formuliert. Viele Experten, die sich mit Recht in Russland auseinandersetzen, weisen immer wieder auf den Unterschied hin zwischen Rechtsgesetzgebung, die nicht politisch verbunden ist. Mit anderen Worten, wo es allein um das Schlichten geht oder zum Beispiel um die Rechtsprechung in wirtschaftlichen Aspekten. Es sei denn, es geht um Großprojekte. Sobald Recht gesprochen wird, wo Politik eine Rolle spielt, wie zum Beispiel die Chodorkowski-Prozesse oder auch der Prozess um Pussy Riot, ist von einer unabhängigen Rechtsprechung nur sehr schwer zu reden. Und wenn es dann um die Austragung eines Großereignisses wie die Olympiade in Sotschi geht, dann hat es in diesem Fall erneut mit Politik zu tun. Insofern, so ergeben Umfragen, wird sich eine russische Bürgerin oder ein russischer Bürger eher nicht an ein Gericht wenden. Gleichwohl – um das noch einmal zu wiederholen – gibt es gerade in kleineren Rechtsstreitigkeiten in Russland eine ordentliche Rechtsprechung. Das wird auch von russischen Anwälten immer wieder bestätigt.

In Arizona/ USA soll jetzt ein Gesetz auf den Weg kommen, das es Unternehmern erlaubt, zum Beispiel Homosexuelle zu diskriminieren, indem diese sich auf ihre Religion beziehen. Warum werden solche Bestrebungen weniger in der Presse beachtet, als wenn Russland Gesetze gegen Minderheiten erlässt?

Das ist eine exzellente Frage! Auch ich habe diesen Beitrag heute morgen im Radio gehört und habe mir genau dieselbe Frage gestellt, ohne eine Antwort zu haben.

Was gibt es denn so Positives zu berichten? Umweltverschmutzung, Umsiedelungen und ausgepeitschte Pussy Riot-Aktivistinnen?

Das ist jetzt eine sehr provozierende Frage! Als jemand, der sehr lange in Russland gelebt hat, und zwar nicht in elitären Gegenden, sondern zum Teil auch in einem Zimmer in einer ganz normalen Familie, kann ich nur sagen, dass die Diskussionen, die ihre Frage impliziert, innerhalb der russischen Gesellschaft höchst kontrovers geführt werden. Es gibt nicht das eine Russland, es gibt ganz unterschiedliche. Das kann man als „ein Russland der verschiedenen Geschwindigkeit“ benennen. Der Aufruhr der russischen Bevölkerung über sich selbst kennt fast keine Grenzen. Das Sich-selbst-beschuldigen sucht seinesgleichen. Und das alleine ist ein Wert, der kaum zu überschätzen ist. Ob daraus folgt, dass die Gesellschaft mit den politischen Entscheidungsträgern gestraft ist, greift zu kurz. Denn trotz der inneren Aufgewühltheit sind nicht wenige Russen mit der jetzigen politischen Führung einverstanden. Russland auf Pussy Riot oder Chodorkowski zu reduzieren, ist absurd! Das Land hat Traumata erlebt, die wir uns kaum vorstellen können. Und im Augenblick ist das Land dabei, sich einigermaßen zu stabilisieren und dann wird das Land in eine Richtung gehen, die es verdient.

Was ist mit dem „selbst beschuldigen“ gemeint?

Mit dem „selbst beschuldigen“ ist gemeint, dass oftmals in Diskussionen russische Bürgerinnen und Bürgern gnadenlos kritisch mit ihrem eigenen Land, aber auch mit ihren Mitbürgern sind, ja mit sich selbst. Und das Land ist ja nicht arm an schlimmen Ereignissen. Die Frage ist nur, und das macht es so schmerzhaft für die Bürger, wie man an der Richtung des Landes etwas verändern kann. Wahlen sind es zumeist nicht. Aber wie soll eine Einflussnahme auf die Politik ausschauen, wenn gesellschaftliche Initiative so wenig Unterstützung findet? Ein Widerspruch in sich selbst.

Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat einmal eine soziologische Studie erstellen lassen mit der Überschrift „Der russische Traum“ und ein Widerspruch dabei war, dass auf der einen Seite staatliche Unterstützung im sozialen Bereich eingefordert wird und auf der anderen Seite fast grenzenlose Freiheit für sich in Anspruch genommen wird. Freiheit, die die Freiheit des Anderen eingrenzen kann. Eine „unbändige Freiheit“ – im Russischen gibt es dafür den Begriff „voya“. Und in diesem Widerspruch lässt sich vielleicht die heutige Diskussion zusammenfassen. Russland hat bisher jedenfalls darauf keine Antwort gefunden.

Eine Stunde Livechat ist fast um. Eine abschließende Frage noch: Zwei Wochen Olympische Winterspiele liegen hinter uns. Was haben Sie, Herr Krumm, an neuen Erkenntnissen mitgenommen?

Insgesamt haben mich diese Olympischen Spiele kaum begeistert. Und das lag vor allen Dingen an dem Konzept „Olympia“, das aus meiner Sicht nicht mehr der Zeit entspricht. Zum einen haben wir genügend andere Wettkämpfe, auch Weltmeisterschaften, und zum anderen ist der ungemein hohe finanzielle Aufwand und der auch oftmals kritisierte Aufwand an Sicherheit nicht mehr zu rechtfertigen. Wir beobachten im Augenblick auch, dass gerade die Länder mit klassischen Wintersportarten wie Deutschland, Norwegen, Schweden gar nicht mehr an Olympischen Winterspielen interessiert sind, während die Länder, deren klimatische Bedingungen nicht ganz einem Wintersportgebiet entsprechen, ein umso höheres Interesse anmelden. Die Mühen, die der örtlichen Bevölkerung zugemutet werden, und da steht Sotschi sicherlich nicht alleine da, haben gewaltig zugenommen. Das tut der Freude der Sportler sicherlich keinen Abbruch. Aber das Missverhältnis von aufgewandten Mitteln und einer doch recht kurzen zweiwöchigen Sportzeit sind eigentlich nicht mehr angemessen. Das ist aber nicht die Schuld von Russland.

2 Antworten auf „Sotschi: Im Gespräch mit Reinhard Krumm“

  1. Von Annette Reitzig am 22. Februar 2014

    Super, dass ihr euch mit dem Thema in dieser Form befasst! Ich werde am Montag sicher dabei sein!

  2. Von Frau Mertens am 25. Februar 2014

    Ganz spannender Chat!! Hab richtig viel dazu gelernt – Herr Krumm ist ja wahrlich ein Russlandkenner!!

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