“Sublime“: Flucht aus den Schubladen
Wie viel Offenheit verträgt Freundschaft? Mit seinem Spielfilmdebüt zeigt Mariano Biasin, dass die verwirrenden Gefühle Heranwachsender so angsteinflößend wie wunderschön sind. Er stößt damit eine Debatte darüber an, wie divers die Darstellung und das Erleben sexueller Identitäten sein kann. Oder muss?
Grandios, außergewöhnlich, reizend. Schon der Titel lässt auf Gutes hoffen. „’Sublime‘ beschreibt die Suche nach einem Ort, an dem Bedürfnisse kein Label brauchen, und die Herausforderung, Liebe in all ihren Formen anzuerkennen“, so Mariano Biasin.
Am vergangenen Samstag feierte der argentinische Coming of Age-Film „Sublime“ von Regisseur und Drehbuchautor Mariano Biasin in der Kategorie „Generation 14plus“ seine Weltpremiere auf der Berlinale. Auf dem roten Teppich dort erblickt man Biasin nicht das erste Mal. 2016 wurde er dort für seinen Kurzfilm „El inicio de Fabrizio“ mit dem Gläsernen Bären ausgezeichnet.
Extra aus Argentinien angereist war zudem Komponist Emilio Cervini, der sich für eindrucksvolle Filmmusik verantwortlich zeigt. Die Hauptdarsteller Martín Miller und Teo Inama Chiabrando, die in „Sublime“ die beiden jugendlichen Protagonisten Manu und Felipe verkörpern, verfolgten die Premiere aus Argentinien. Und die war nicht weniger außergewöhnlich als der Film selbst.
Verliebte Freunde
Im coronabedingten Schachbrettmuster ist der Kinosaal gut gefüllt. Schon lange hat man keinen so vollen Kinosaal wie diesen in der Urania gesehen. Überall ein Mix aus verschiedenen Sprachen und Altersklassen. Am Ende dann: ohrenbetäubender Applaus. Endlich wieder Kino! Endlich wieder Kultur!
Hundert Minuten zuvor: Der Blick wandert zur Leinwand, folgt ab jetzt gebannt den Freunden Manu und Felipe, die eigentlich wie Brüder sind. Doch ihre innige Freundschaft droht durch die romantischen Gefühle des 16-jährigen Manu zu zerbrechen. Manu führt eine Beziehung mit Azul. Felipe ist auch verliebt in ein Mädchen. Anstatt jedoch sein erstes Mal mit Azul zu planen, erwacht in Manu das Begehren nach Intimität mit Felipe.
Sowohl Manus als auch Felipes innerer Konflikt und die daraus folgende Zerrissenheit wird über den Film hinweg mit sanften, magischen und wahrhaftig anmutenden Liedtexten von Emilio Cervini untermauert. Präsentiert werden die Lieder durch die Rock-Band, der die Jungs angehören und wo Manu versucht, selbst verfasste Songtexte in passende Akkorde zu wickeln. Am Ende dann wickelt der stetige Kontrast aus langen ruhigen Einstellungen und wilden Rock-Szenen das Publikum in eine selbstvergessene, begeisterte Stimmung, die für anhaltende Ovationen sorgt.
Das neue Normal?
Dem Film gelingt, eine queere Geschichte zu erzählen, ohne das Leiden des Protagonisten in den Fokus zu stellen. Qualvolle Outings und das Gefühl, nicht dazuzugehören, sind außen vor. Im Vordergrund steht die Frage: Wie lässt sich so etwas Kostbares wie die eigene sexuelle Identität bewahren, das einen gleichzeitig immer stärker in Bedrängnis bringt?
Auch vom Publikum bleibt Biasins ungewöhnlicher Ansatz nicht unbemerkt. Zuschauerin Marisol C.: „Es war eine queere Geschichte und es war trotzdem eine ganz normale Geschichte, das war das Schöne an dem Film.“
Zuschauer Paul F. lobt die verständnisvolle Reaktion des Vaters, mit den Gefühlen seines Sohnes umzugehen: „Das hat Stereotype aufgebrochen, gerade weil die Mutter eher kühl rüberkam. Das ist man ja eher anders herum gewohnt. So eine Offenheit hätte ich mir bei meinem Coming-Out von meinem Vater auch gewünscht.“
Und Johannes S. formuliert es so: „Von anderen Coming of Age-Filmen bin ich gewohnt, dass sie in Bezug auf Themen, die LGBTQIA+ betreffen, sehr hart sind und viel Trauer untergemischt wird. Der Regisseur hier ist sehr wohlwollend an die Thematik gegangen.“
Im Interview erklärt Biasin: „Mein Hauptaugenmerk lag auf der Frage, warum und wie Beziehungen sich verändern. Sie sollen mit keinen Labels versehen werden. Der Charakter definiert seine Sexualität nicht. Es ist nur ein Gefühl für diesen einen Charakter. Das sagt nichts über seine Sexualität in der Zukunft aus.“
Tatsächlich offenbart der Film eine Gratwanderung zwischen dem Abbild einer utopischen Welt ohne feste Zuschreibungen und unsichtbar gemachten Problemen queerer Menschen.
Queere Perspektiven einnehmen
Queere Lebensrealitäten sehen häufig anders aus, als es in „Sublime“ präsentiert wird. Jenseits der Leinwand gibt es viel (mehr) Diskriminierung, Unterdrückung und Leid. Dabei könnte längst ein breiter Konsens darüber bestehen, dass Queerness im 21. Jahrhundert nichts anderes ist als: normal. Vollkommen gleichgestellt sind homo-, bisexuelle- und Trans-Personen jedoch noch lange nicht. Umso mehr braucht es Repräsentationsformen, die der Community gerecht werden.
Immerhin bahnt sie sich immer deutlicher ihren Weg in die Filmindustrie. Das zeigt sich unter anderem auch an der Verleihung des weltweit ersten offiziellen LGBTIQ-Filmpreises im Rahmen der Berlinale. Der sogenannte „Teddy Award“ wird eigentlich am Vorabend der Verleihung des Goldenen Bären vergeben. In diesem Jahr darf der seit 1987 gestiftete Preis allerdings einen Tag danach den festiven Abschluss der Berlinale markieren. Auch „Sublime“ ist nominiert. Gefeiert wird in jedem Fall aber nur mit ein paar geladenen Gästen in der Berliner Volksbühne. Corona lässt grüßen.
Wer darf wen spielen?
In der Filmindustrie wird die Frage „Wer darf wen spielen?“ aktuell hitzig diskutiert. Bereits 2016 beklagte der schwule britische Schauspieler Ian McKellen gegenüber dem Guardian, dass noch kein offen homosexueller Mann einen Oscar gewonnen habe, sehr wohl aber schon viele heterosexuelle Männer dafür ausgezeichnet wurden, dass sie einen Homosexuellen spielten.
Nach der Filmvorführung in der Urania kritisiert auch eine queere Person mit Namen Calen B.: „Trans-Sein wird immer noch gerne als “das Andere“, “das Unnormale“ betrachtet. Die cis-gender schauspielende Person hat das Privileg, am Ende der Dreharbeiten ihr Kostüm des Trans-Seins ausziehen. Sie verwandelt sich zurück in eine “normale“, also weniger bis kaum diskriminierte Person, die für ein kurzes Abenteuer in die Untiefen des “Abnormalen“ abgetaucht ist. Trans-gender Zuschauende können sich aber nicht einfach mal in eine Cis-Person verwandeln. Solange es nicht viele bekannte, offene Trans-Schauspielende gibt, wird immer nur die Verwandlung vom “Nicht-normalen“ zurück zum “Normalen“ zu sehen sein.“
Sinn des Schauspiels
So angebracht Skepsis und Kritik sind, gerät nicht die Sinnhaftigkeit von Schauspielerei in Frage? Denn genau darum soll es gehen: der zu verkörpernden Person zu entsprechen, sich auf sie einzulassen und ihre Perspektive einzunehmen. Und wenn die sexuelle (Geschlechts-)Identität von Schauspieler:innen der von ihnen dargestellten Figuren entsprechen muss: Dürfen dann queere Menschen in heterosexuelle Rollen schlüpfen?
Bei der Rollenbesetzung hat Mariano Biasin selbst keinen Wert auf die sexuelle Orientierung der beiden Hauptdarsteller gelegt. Er verstehe zwar den Anspruch der Community, dass queere Charaktere nur von queeren Schauspieler:innen gespielt werden dürfen. Andererseits versuche er sich mit dem Film von vermeintlich identitätsstiftenden Schubladen zu entfernen. „Es geht um das Ablegen von Labels sowohl vor als auch hinter der Kamera.“
Wow, richtig schöner Artikel!! Die Atmosphäre klingt total toll. Den Film würde ich gerne sehen. Ich finde es tatsächlich auch sehr wichtig und schön queere Repräsentation im Film zu haben, die sich nicht nur auf die Schwierigkeiten, die sich ergeben könnten reduziert. Auch, dass es gar kein Thema ist und einfach Teil eines Charakters kommt viel zu selten vor. Danke für die spannenden Gedanken dazu! 🙂
Thank you Vera Keddigkeit for such an interesting analysis, and for your thoughts about ‚Sublime‘.
It’s a privilege for me to read this delicate look into the film, in which we have worked to much. Danke! 🙂
Hello Mariano Biasin, thank you very much for your feedback! It was a pleasure watching your movie „Sublime“ at the Berlinale. As I wrote in my article – the way you treated labels in the movie was quite inspiring.
Greetings from Germany:)