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Technischer Fortschritt, sprichwörtlich

Von Madlen Schäfer / 22. Dezember 2017
Foto: Privat

Der Friese André van Rüschen ist seit einem Unfall querschnittsgelähmt. Zehn lange Jahre saß er im Rollstuhl. Dank eines Exoskeletts läuft er wieder.

Als André van Rüschen auf einmal wieder laufen konnte, kullerten bei ihm die Tränen. Auch seine Frau fing vor Begeisterung an zu weinen. „Oh, Papa, du bist so groß“, sagte sein Sohn, der ihn davor noch nie hatte laufen sehen.

Seit 2003 ist van Rüschen wegen eines Autounfalls querschnittsgelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen. Neue Technologie verhalf ihm zehn Jahre später sprichwörtlich wieder auf die Beine. Durch ein Exoskelett, eine Art Roboter-Stützanzug, kann der 44-Jährige wieder stehen, laufen und sogar Treppen steigen.

Als er nach seinem Autounfall im Krankenhaus lag, schien selbstständiges Gehen unmöglich. Sehr schwierig sei es damals für ihn gewesen, als er erfuhr, dass der 12. Brustwirbel das Rückenmark durchtrennt hatte und er deshalb querschnittsgelähmt sein würde. „Ich bin in ein tiefes Loch gefallen“, sagt van Rüschen über diese Zeit.

Dass seine Frau ein Kind von ihm erwartete, entfesselte neuen Lebensmut in ihm. Es gab ihm die Kraft, nach zehn Wochen im Koma wieder alles von Beginn an zu lernen. Selbst eine Gabel festzuhalten musste er erst wieder trainieren, weil seine Muskeln komplett zurückgebildet waren. „Ohne meine Frau und meinen Sohn hätte ich das nicht geschafft.“

Neun Jahre später las er in einer Zeitung einen Aufruf, der sein Leben komplett verändern sollte. Die israelische Firma ReWalk Robotics suchte eine Testperson für ein Exoskelett. Da das Unternehmen auf der Suche nach einer besonders großen Person war, hatte der 1,90 Meter große van Rüschen Glück und wurde ausgewählt. Im Sommer 2012 testete er das Exoskelett eine Woche lang zwei Stunden morgens und abends und lernte, das Gleichgewicht zu halten. Nach fast zehn Jahren konnte van Rüschen zum ersten Mal wieder ein paar Schritte gehen.

Kinder schreien manchmal aus Ferne: ‚Da kommt ein Roboter‘“

Inzwischen ist das Exoskelett ein fester Bestandteil seines Lebens geworden. In seinem Roboteranzug befinden sich in den Knien und Hüften Motoren, die über Kabel mit dem Rest des Stütz-Korsetts verbunden sind. Über einen Computer am Arm kann er sich aufrichten, laufen, Treppen auf- und absteigen. Durch Armstützen kann er das Gleichgewicht halten. Erst durch die Bewegung seines Oberkörpers kommt das Exoskelett in Bewegung, das ist van Rüschen wichtig. „Ich habe die Kontrolle. Nur ich will über meine Schritte entscheiden – nicht die Maschine“, sagt er.

Besonders eine Sache hat sich mit dem Anzug verändert: Auf der Straße nehmen die Menschen van Rüschen wieder anders wahr. „Wenn man im Rollstuhl sitzt, wird man als behindert angesehen – das ist ein Gefühl von Ausgrenzung. Seitdem ich wieder laufen kann, fühle ich mich der Gesellschaft wieder zugehörig und muss sogar aufpassen, dass ich nicht umgerannt werde“, sagt der gelernte Autolackiermeister. Viele Menschen würden ihn auf seinen Anzug ansprechen. „Kinder schreien manchmal aus der Ferne: ‚Da kommt ein Roboter‘. Andere nennen mich auch Iron Man oder RoboCop“, erzählt van Rüschen, leicht amüsiert.

So wie André van Rüschen leben 10,2 Millionen Menschen in Deutschland mit einer Behinderung, 7,5 Millionen Menschen davon sind schwerbehindert. Einigen dieser Menschen könnten Technologien wie Hörgeräte oder Apps wie „Ariadne GPS“, die sehbehinderte Menschen navigiert, sehr helfen. Hightech-Prothesen sind allerdings sehr teuer, die Beantragung einer solchen Hilfsleistung bei der Krankenkasse häufig ein langwieriger Kampf.

„Die Kassen müssen zahlen, wenn ein Mensch es nutzen kann. Aber die Genehmigung kann sehr lange dauern“, so van Rüschen. Der Hilfsmittelmarkt sei häufig zu intransparent, meint die Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderungen der SPD-Fraktion, Kerstin Tack. „Jeder Patient muss davon ausgehen können, dass er bei seiner Krankenkasse ordentlich versorgt wird. Krankenkassen dürfen nicht auf Kosten derjenigen sparen, die sich aus Scham nicht wehren können“, sagt Tack.

Der Gesundheitszustand von van Rüschen, der durch das dauerhafte Sitzen im Rollstuhl gelitten hatte, hat sich mit dem Anzug maßgeblich verbessert. „Ich habe keine Rückenschmerzen, Blasenentzündungen, Osteoporose, Spastik in den Beinen und Darmbeschwerden mehr“, sagt er. Um das auch den Entscheidern zu zeigen, stellt er sich und sein Exoskelett bei Messen und Krankenkassen vor.

Selbstbestimmtes Leben durch Technik

Ab 2018 wird das Bundesteilhabegesetz flächendeckend in Deutschland eingeführt. Menschen mit Behinderungen sollen dadurch mehr Rechte erhalten. Sie müssen etwa zukünftig nicht bei zig Institutionen Anträge stellen, stattdessen soll nur ein Hilfsträger zuständig sein. Auch das Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz aus diesem Jahr habe die Versorgung mit Hilfsgütern deutlich verbessert, erklärt Kerstin Tack. „Um eine angemessene Versorgung mit Hilfsmitteln von Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten, ist es aus meiner Sicht zentral, dass Hilfsmittel stets dem neuesten Stand der Technik entsprechen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass das Hilfsmittelverzeichnis laufend aktualisiert wird. Denn auch neuste Innovationen dürfen Menschen mit Behinderungen nicht vorenthalten werden.“

Gemeinsam stark: André van Rüschen mit seinem Team beim ersten Cybathlon in Zürich 2016. (Foto: Privat)

Weitere Schritte müssen und werden folgen, verspricht Tack in Bezug auf das Bundesteilhabegesetz. Zu wünschen wäre es all denjenigen, die auch in die Fußstapfen von André van Rüschen treten wollen. „Ich bin ein sehr glücklicher Mensch. Das verdanke ich meiner Familie, aber auch meinem Exoskelett“, sagt van Rüschen. Er macht inzwischen sogar wieder Sport und hat im vergangenen Jahr sogar den Cybathlon gewonnen – einen Hindernislauf der anderen Art.

2 Antworten auf „Technischer Fortschritt, sprichwörtlich“

  1. Von Sonja Heusing am 7. November 2020

    Mein Sohn johnny kam durch einen Unfall 2015 in den Rolli kämpft seit 2016 für rewalk wird alles abgelehnt obwohl er bestens zurecht kommt und sich sehr wohl damit fühl

    1. Von Sagwas-Redaktion am 9. November 2020

      Liebe Sonja Heusing, der Unfall Ihres Sohns stimmt auch uns traurig. Aber Aufgeben darf es nicht geben, finden wir. Das BTHG tritt bis 2023 stufenweise in Kraft. Bleiben Sie also am Ball! Vielleicht ist bald mehr Unterstützung in Sicht.

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