Traumberuf Hartz IV-Empfänger
In Deutschland lebt jedes fünfte Kind unter der Armutsgrenze, in Berlin sogar jedes dritte. Initiativen wie das Kinderwerk Arche versuchen dort zu helfen, wo der Staat sie im Stich lässt. Was das reiche Deutschland tun müsste und was Armut für Kinder in Berlin bedeutet. „Alles eben richtig geil hier“, sagt Armina über die Arche, ohne […]
In Deutschland lebt jedes fünfte Kind unter der Armutsgrenze, in Berlin sogar jedes dritte. Initiativen wie das Kinderwerk Arche versuchen dort zu helfen, wo der Staat sie im Stich lässt. Was das reiche Deutschland tun müsste und was Armut für Kinder in Berlin bedeutet.
„Alles eben richtig geil hier“, sagt Armina über die Arche, ohne nachdenken zu müssen. Armina lebt in Hellersdorf im Osten Berlins und kommt regelmäßig in das Jugendzentrum. Am coolsten findet die Grundschülerin die sogenannte Gummizelle. Der Raum ist mit großen Würfeln aus Schaumstoff gefüllt. „Man darf damit aber nicht werfen“, ruft sie ernst über Kindergeschrei hinweg. Dann duckt sie sich lachend, als ein Würfel auf sie zu fliegt.
Die Arche ist ein christliches Kinder- und Jugendwerk, das in Deutschland, der Schweiz und Polen kostenlose Mittagessen und Förderprogramme für Kinder anbietet. In Deutschland leben mindestens 2,5 Millionen Kinder unter der Armutsgrenze. In Berlin sind es 200.000. Experten sehen ein Versagen der Politik. Vereine wie die Arche versuchen, schnell und unbürokratisch zu helfen.
Der Kühlschrank zu Hause ist häufig leer
In der Arche in Hellersdorf, einer von fünf Archen in Berlin, gibt es mittags warmes Essen für Kinder. Wenn die Eltern sie begleiten, bekommen diese auch einen Teller. „Jeder bekommt bei uns etwas zu essen, ohne dass er etwas vorzeigen oder sich anmelden muss“, sagt Tim Rauchhaus, der die Einrichtung leitet. Die Arche ist ein offenes Haus. Das Essen ist kostenlos. Für viele Kinder ist es die erste Mahlzeit des Tages.
„Die Kinder sind häufig auf sich alleine gestellt. Morgens stehen sie alleine auf, der Kühlschrank ist bei ihnen häufig leer und Geld für ein Brötchen auf dem Weg zur Schule fehlt – besonders am Ende des Monats“, sagt Rauchhaus. An jedem Tisch sitzen Pädagogen, die mit den Kindern essen. „Viele Kinder kennen es gar nicht, gemeinsam zu essen und jemanden zu haben, der sich nach ihrem Schultag erkundigt und danach, wie es ihnen geht“, so Rauchhaus.
„Kinderarmut ist vor allem eine Folge von Erwachsenenarmut“, sagt Margherita Zander, Professorin für Sozialpolitik an der Fachhochschule Münster. Gründe dafür seien die Erwerbslosigkeit der Eltern, unzureichende Sozialleistungen für Kinder, die Benachteiligung von Alleinerziehenden vor allem im Steuersystem, sowie der erschwerte Zugang von Migranten zum Arbeitsmarkt. „Auch mit Niedriglöhnen kann man keine Familie ernähren“, sagt Zander. Sie forscht seit den 1990er Jahren zum Thema Kinderarmut und hat gerade ein Buch über deren Bekämpfung geschrieben.
In Industriestaaten wie Deutschland mit einer Mindestabsicherung wie Hartz IV spricht man nicht von absoluter Armut, sondern von Einkommensarmut. Von dieser ist man betroffen, wenn man in einem Haushalt mit einem Einkommen lebt, das 50 Prozent unter dem Durchschnitt liegt. Das sind laut dem Berliner Kinderschutzbund Familien mit zwei Kindern unter 15 Jahren mit weniger als 1.499 Euro Einkommen und Alleinerziehende mit einem Kind mit weniger als 833 Euro Einkommen monatlich.
Hellersdorf ist das größte Siedlungsgebiet Europas
Hellersdorf liegt sehr weit im Osten Berlins, 20 Stationen von der U-Bahn-Station Stadtmitte entfernt. Der Stadtteil gehört zum Bezirk Marzahn-Hellersdorf. Es ist das größte Siedlungsgebiet Europas. Die Plattenbauten reihen sich am Horizont endlos aneinander. 50.000 Hartz IV-Empfänger leben hier angeblich.
Auf der Straße sieht man viele Jugendliche. Sie sitzen in den Innenhöfen, in der einen Hand die Zigarette, in der anderen eine Tüte Chips. Aus ihren Handylautsprechern dröhnt laute Musik, die durch die Häuserreihen schallt. „Es gibt kaum Freizeitangebote, meistens hängen die Kinder herum“, sagt Arche-Leiter Rauchhaus. Geld für Kino oder Schwimmbad hätten die meisten Kinder nicht. „Manche haben den Stadtteil nie verlassen.“
In Deutschland sind Kinder in Großstädten wie Berlin wahrscheinlicher von Armut betroffen als Kinder auf dem Land. Im Norden sind Familien statistisch gesehen ärmer als im Süden, im Osten ärmer als im Westen. „In Berlin liegen sowohl die Kinderarmutsquote als auch das Armutsrisiko von Kindern wesentlich höher als im bundesdeutschen Durchschnitt“, sagt Zander. Verschiedene Risiken für Kinderarmut kommen in Berlin zusammen: Der Anteil Alleinerziehender ist hoch, die Arbeitslosigkeit liegt bei mehr als zehn Prozent und es gibt viele Migranten. Besonders besorgniserregend ist für Zander, dass sich in vielen Familien die Armutslage immer mehr verfestige. „Ihre Hoffnung auf eine rasche Änderung ihrer Lage schwindet“, sagt sie. Dies wirke sich auch besonders negativ auf die Kinder aus, da ihnen zunehmend eine Perspektive fehlt.
Mehr als nur ein warmes Mittagessen
Die Arche bietet Kindern deshalb nicht nur ein kostenloses Mittagessen, sondern auch Förder- und Freizeitaktivitäten an. Nachmittags helfen Pädagogen und Ehrenamtliche bei den Hausaufgaben. Es gibt Musikunterricht, IT-Schulungen und viele Sportangebote. In der Arche können sich die Kinder nach der Schule den ganzen Tag in den Spiel- und Rückzugsräumen aufhalten. Rund 30 Mitarbeiter, die zum großen Teil ehrenamtlich arbeiten, sind dafür an verschiedenen Tagen vor Ort.
In dem ehemaligen DDR-Schulgebäude, in dem die Arche liegt, ist immer viel los. Eine Truppe in Stutzen und Hertha-Hosen zieht in Richtung Sporthalle, ein paar Mädchen sitzen im sogenannten KidsCafé und diskutieren über Make-up, andere spielen Karten. Kinder sitzen verträumt auf den Fluren, kuscheln sich in Sitzecken und flüstern vor sich hin. Ständig schieben sich neue Kinder durch die Eingangstür. Arche-Leiter Rauchhaus ist stets von einem Schwarm Kinder umringt, als sei er ein Superstar. Es herrscht ein liebevolles Durcheinander. Auch wenn es manchmal lauter wird, hat diese Atmosphäre etwas Beruhigendes.
Mit Spendengeldern finanziert
Vor rund 19 Jahren haben Pastor Bernd Siggelkow und seine Ehefrau Karin die Arche gegründet. „Wir kamen aus dem Westen“, erzählt Karin Siggelkow, die immer noch fast täglich für die Arche im Einsatz ist, „und sahen all diese Kinder, die immer alleine und ohne Eltern auf der Straße spielten.“ Für sie war das der ausschlaggebende Grund, erst einen Gottesdienst anzubieten und, als die Nachfrage nach Beratung und Aktivitäten stieg, das Kinder- und Jugendwerk Die Arche zu gründen.
Heute finanzieren sich die Archen fast ausschließlich über Spendengelder. An den 19 Standorten in Deutschland, Polen und der Schweiz wird vereinzelt das Grundstück durch die jeweilige Stadt gestellt. Für die Projekte für die rund 4.000 Kinder, die in den Einrichtungen betreut werden, gibt es jedoch häufig kein Geld. Rund acht Millionen Euro braucht die Organisation pro Jahr. „Es ist nicht immer leicht, die zusammenzukriegen“, sagt Siggelkow. Die Suche nach Sponsoren und Spendern macht deshalb auch einen großen Teil der Arche-Arbeit aus.
In Berlin unterstützt die Stadt die Arche nicht. Sie hat sich in dem Moment zurückgezogen, als sie das Gefühl hatte, es würde auch ohne sie mit privaten Mitteln gehen. Neben den Arche-Einrichtungen gibt es in Berlin den Berliner Kinderschutzbund, der in Marzahn-Hellersdorf Bildungs- und Kreativangebote sowie Ferienfreizeiten anbietet, die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung, die seit mehreren Jahren ehrenamtliche Initiativen mit Aktivitäten für benachteiligte Kinder fördert und viele weitere Akteure.
Kinderarmut keine Priorität
„Diese Initiativen sind notwendig, weil die Sozialpolitik versagt“, sagt Politikwissenschaftlerin Zander. Sie findet es bezeichnend, dass die Bundesregierung seit 2001 eine regelmäßige Berichterstattung über die Armutsentwicklung erstellen lasse, und ihr dennoch keine nötige Priorität einräume. „Die Existenz von Armut wird offiziell nicht mehr geleugnet, sie wird aber schlicht als Faktum hingenommen, genau so, wie man sich auch an hohe Erwerbslosenzahlen gewöhnt hat.“ Lediglich Wege zur Schönung der Statistik würden gefunden.
Deshalb warnt Zander auch, dass solche privaten Initiativen dem Staat nicht als Vorwand dafür dienen dürften, sich immer weiter aus seiner sozialstaatlichen Verpflichtung zurückzuziehen. „Neben Einschränkungen bei Essen, Kleidung und Wohnen spüren Kinder Armut am stärksten, wenn es um die Freizeitgestaltung und die Förderung ihrer Talente und Neigungen geht“, sagt Zander. „Freie Initiativen, Stiftungen oder gemeinnütziges Engagement mögen so etwas an manchen Stellen auffangen, ersetzen aber keine generelle staatliche Leistung.“ Der Staat dürfe sich nicht darauf verlassen, dass ehrenamtliches Engagement stets und an allen Orten bereitstehe, um dort einzuspringen, wo sozialstaatliche Defizite zu Tage treten.
Im internationalen Vergleich nimmt Deutschland im quantitativen Ausmaß der Kinderarmut seit Jahren einen Platz im oberen Mittelfeld ein. Die Bundesrepublik hat ein besseres Sicherungsnetz als beispielsweise die USA, aber bei der Bekämpfung von Kinderarmut wird Deutschland immer wieder von Organisationen wie UNICEF ermahnt. Die Kritik: Der Familienleistungsausgleich müsse dringend reformiert, der Kinderarmutsbekämpfung eine höhere Priorität einräumt werden.
Beratung auch für Eltern
Dazu gehöre nicht nur die Förderung von Kindern, sondern auch die Unterstützung der Eltern. Denn viele sind überfordert. „Eltern kommen häufig gezielt auf uns zu, wenn sie Hilfe brauchen“, sagt auch Arche-Leiter Tim Rauchhaus. Das könne bei der Beantragung von Hartz IV sein, wegen Schulden oder Problemen mit ihren Kindern. „Wir helfen schnell und unbürokratisch“, sagt Rauchhaus. Im Gegensatz zu öffentlichen Stellen gibt es keine Liste und keine Termine. „Die Eltern sollen sich wohlfühlen können und wie die Kinder gerne hierhin kommen, um sich auszutauschen.“
Das ist auch der Grund, warum Ramona hier ist. Sie arbeitet sechs Stunden am Tag als Reinigungsfachkraft und kommt danach mit ihrem sieben Jahre alten Sohn Dominik in die Arche. „Ich kenne viele der anderen Eltern und bin gerne hier“, sagt Ramona. Nach dem Essen tauschen die Eltern Plätze, reden und trinken Kaffee. Dann sind die steigenden Buspreise Thema oder abgestellter Strom.
2015 wird die Arche 20 Jahre alt. Mittlerweile hat sich ein deutschlandweites Bündnis aus acht Verbänden und sechs Wissenschaftlern zusammengeschlossen, darunter Margherita Zander und Heiner Keupp von der Universität München. Sie setzen sich für eine allgemeine Kindergrundsicherung und eine neue Familienpolitik ein. Erstere müsste etwa 500 Euro monatlich pro Kind betragen. Zudem sollte die Ganztagsbetreuung ausgebaut werden, um die Kinder besser zu fördern und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erleichtern. „Außerdem sollte der Staat über den Mindestlohn hinaus sicherstellen, dass die Löhne zum Leben reichen“, sagt Zander.
Solange sich aber in der Politik nichts bewegt, ist das Engagement der privaten Initiativen weiter wichtig. Die Arche gibt den Kindern einen geschützten Ort und eine Perspektive. Bei einer internen Umfrage haben die Kinder vor kurzem ihren Traumberuf gewählt. Auf Platz Eins landete Superstar, gefolgt von Hartz IV-Empfänger. Als Drittes nannten die Kinder: Betreuer in der Arche.
schöner Artikel über ein tolles Projekt!!