¡Viva Ecuador
Nein, natürlich MÜSSEN wir Assange nicht mögen. Man darf ihn sogar explizit NICHT mögen, wie zum Beispiel Karsten Polke-Majewski. Selten sei es einem „Paranoiker gelungen, die ganze Welt derart für sich einzuspannen“, schreibt der ehemalige FAZ-Redakteur. Interessant finde ich, dass er das nicht mehr in der FAZ veröffentlicht, sondern bei ZEIT ONLINE, dessen stellvertretender Chefredakteur […]
Nein, natürlich MÜSSEN wir Assange nicht mögen. Man darf ihn sogar explizit NICHT mögen, wie zum Beispiel Karsten Polke-Majewski. Selten sei es einem „Paranoiker gelungen, die ganze Welt derart für sich einzuspannen“, schreibt der ehemalige FAZ-Redakteur. Interessant finde ich, dass er das nicht mehr in der FAZ veröffentlicht, sondern bei ZEIT ONLINE, dessen stellvertretender Chefredakteur Polke-Majewski inzwischen ist.
Hier holt er in seinem Kommentar sogar noch weiter aus und spottet über Wikileaks. Assange habe mit dem einstmals vielversprechenden Projekt heute nichts mehr zu tun, es dümple vor sich hin. Assange ist also nur noch eine Lachnummer. Immerhin noch gut genug, seine Idee 1:1 bei ZEIT ONLINE abzukupfern: www.zeit.de/briefkasten: „Interne Papiere, Verträge, Datenbankauszüge – wenn Sie finden, dass die Öffentlichkeit davon erfahren sollte, können Sie uns diese Dokumente hier übermitteln.“
Ich habe überhaupt nichts gegen diese Aktion. Sie ist die Übertragung eines Gründungsauftrags des Journalismus ins digitale Zeitalter. Der Spott und die Häme, die ZEIT ONLINE gleichzeitig über Assange ausgießt („Als nächstes wird der Name Assange vermutlich Einzug in die UN-Charta für Menschenrechte halten. Oder in die Bibel.“), finde ich vor diesem Hintergrund allerdings deplatziert.
In der Debatte um Assange gilt es, drei Dinge auseinanderzuhalten:
– die Person Julian Assange,
– die Vorwürfe wegen sexueller Misshandlung und Vergewaltigung,
– sowie die Entwicklung von Wikileaks.
Mit George Washington und Thomas Jefferson waren zwei Gründerväter der Vereinigten Staaten, zwei Promotoren des Verfassungsstaates und bürgerlicher Grundrechte, gleichzeitig auch Sklavenhalter. Unter den größten Schriftstellern der Weltgeschichte waren hunderte private Unmenschen, Tyrannen, Frauenhasser, Kinderschänder.
Niemals darf man ob ihrer jeweiligen Lebensleistung vergessen, was eben auch zu ihrer Persönlichkeit und ihrer Lebensgeschichte gehörte. Das heißt für mich in erster Ableitung: Wikileaks ist ein großartiger Wurf und ein wichtiger Baustein in der Demokratisierung der Netzgesellschaft und sollte auch als solcher gewürdigt werden.
Was die Person Julian Assange betrifft: ich persönlich bin ihm nie begegnet. Ich gebe aber auch zu, dass mich alles, was ich bisher über ihn gelesen und gesehen habe, nicht unbedingt einlädt, ein Bier mit ihm zu trinken. Er ist – das darf man wohl so festhalten – kein sehr sozialer Mensch.
Damit aber zum augenscheinlichen Kern der Debatte, den massiven Vorwürfen von zwei schwedischen Staatsbürgerinnen, die im Mittelpunkt von Assanges geplanter Ausweisung aus Großbritannien und seines aktuellen Asyls in der ecuadorianischen Botschaft stehen.
Fürs Protokoll: diese Vorwürfe müssen geklärt und geahndet werden. Im Moment jedoch gibt es nicht einmal eine Anklage, sondern lediglich den Wunsch der schwedischen Staatsanwaltschaft, Assange zu vernehmen.
Ist es denn völkerrechtlich undenkbar, dass dies im Amtshilfe-Verfahren gelöst wird? Schwedische Staatsanwälte könnten das Verhör gemeinsam mit ecuadorianischen Beamten in der Londoner Botschaft vornehmen. Um die wild fuchtelnde britische Regierung zu beruhigen, die sogar über rechtliche Grundlagen einer Erstürmung der Botschaft nachgedacht hatte, könnte auch ein Vertreter von Scotland Yard teilnehmen. Auf Grundlage dieses Verhörs ließe sich dann entscheiden, ob Assange weiter Asyl genießt oder Ecuador doch einer Auslieferung zustimmt. Nach Aussagen aus Wikileaks-Kreisen wäre Assange auch bereit, sich in Schweden zu erklären, wenn ihm garantiert werde, nicht an die USA ausgeliefert zu werden.
Ist Assange damit für mich doch ein Fall für die Bibel? Unfug. Aber ich muss an dieser Stelle noch einen Verdacht loswerden, der mich als Opfer zu vieler Agententhriller outet. Jetzt folgt pure Verschwörungstheorie.
Auf dem Höhepunkt der Wikileaks-Enthüllungen war Julian Assange für mehrere Regierungen aktueller oder potenzieller Staatsfeind Nr. 1. Man hätte Agenten auf ihn ansetzen und ihn exekutieren können, um das Problem zu lösen. Oder aber, man ermordete lediglich seinen Ruf. Nochmal: das ist reine Verschwörungstheorie. Aber so lustig einseitig wie DIE ZEIT sollte man sich politische Analyse eben auch nicht machen. Es sei typisch für ein totalitäres Regime, einen Dissidenten nicht politisch zu verfolgen, sondern strafrechtlich, sagte am Wochenende Craig Murray in einer Solidaritätsadresse vor der ecuadorianischen Botschaft. Er war unter Protest aus dem diplomatischen Dienst ihrer Majestät ausgeschieden.
Ein Exkurs zum Schluss: Thomas Fischermann und Götz Hamann zitieren in Zeitbombe Internet aus chinesischen Militärjournalen, dass „eine überlegene Streitkraft, die ihre Informationsdominanz verliert, geschlagen werden kann.“ Die beiden Autoren – übrigens ebenfalls von der ZEIT – betonen, dass „Informationsdominanz“ einer der strategischen Lieblingsbegriffe von US-Verteidigungsminister Robert Gates und von General Wang Pufeng von der chinesischen Militärakademie sei.
Der Information Warfare Monitor, ein kanadisches Forschungsprojekt, das im Januar eingestellt worden ist, warnte schon vor zwei Jahren in einem Report vor dem „rapiden Wettrennen um die Militarisierung des Cyberspace“.
Information ist zur wichtigsten Waffe der Welt geworden. Lieferanten von Information werden zu Milliarden-Unternehmen, wie Google oder auch Daten-Spezialisten wie das Rubicon Project, das von sich behauptet, bereits über eine halbe Millarde Internetnutzer datentechnisch erfasst zu haben.
Wer Informationen verwaltet, hat Macht. Wer Informationsstrukturen beeinflussen kann, bedroht Macht. Das ist das Wikileaks-Prinzip. Und es hätte ohne Julian Assange keine solche Flughöhe und keine solchen Ausmaße erreicht.
Die „Hexenjagd auf Wikileaks“ müsse aufhören, forderte Julian Assange am Sonntag in einer Ansprache auf dem Balkon der Botschaft. Assange ist kein Heiliger. Aber wir sollten darauf achten, dass er auch nicht zu einem tragischen Fanal wird.