Vom Fotografen zum Lkw-Fahrer
Andreas Flanke* (36) ist ein talentierter Fotograf, der sich vor sechs Jahren selbstständig gemacht hat. Doch dann kam der schleichende Bankrott. Heute bezieht er Hartz IV und wird derzeit vom Jobcenter zum Lkw-Fahrer umgeschult.
Vor drei Jahren sah Andreas Flanke noch so aus, als würde er jeden Winter im Pazifik surfen: braungebrannt, sportlich, entspannt. Viele seiner Freunde beneideten ihn um seinen außergewöhnlichen Job, bei dem er für die internationale Werbeindustrie um die Welt reisen konnte. Goa-Partys in Indien, Surfen in Südafrika oder Sightseeing in Singapur inklusive.
Mittlerweile wirkt er ermattet und blickt verständnislos aus müden Augen auf einen Stapel von Anträgen. Papiere mit einer Behördensprache, die er selbst als gebürtiger Deutscher nicht immer versteht. So wie er Buchhaltung, Rechnungswesen und Steuererklärungen nie vollständig verstanden hat. „Die ersten zwei, drei Jahre lief es ja gut“, erklärt er. „Doch auf einmal zahlten einige meiner Kunden nicht wie vereinbart. Als dann auch noch die Werbeagentur wegbrach, von der ich immer die meisten Aufträge erhielt, häuften sich die Schulden.“ Kurze Zeit später konnte er unter anderem die hohe Studiomiete nicht mehr bezahlen.
Laut Flanke bestand sein größter Fehler darin, dass er während seiner selbstständigen Tätigkeit seine Ausgaben nicht gegen seine Einnahmen verrechnet hat. Die anschließenden Forderungen des Finanzamts mündeten erst in Schätzungen seiner Steuerschuld, dann in immensen Vorsteuerforderungen und am Schluss in Pfändungsbriefen.
„Daraufhin habe ich nur noch Hilflosigkeit empfunden und war total handlungsunfähig“, erinnert sich Flanke. Nun ist er pleite, zieht brav Nummern aus einem Automaten des Jobcenters und steht regelmäßig in der Warteschlange, um pflichtbewusst Auskunft über den Stand seiner Bewerbungen zu geben.
2,66 Euro pro Tag zum Leben
Gegenwärtig muss er mit 860 Euro pro Monat haushalten. 700 Euro erhält er vom Amt, 300 Euro verdient er als Leiter eines Fotokurses an einer Schule hinzu, wovon er 160 Euro behalten darf. Abzüglich der Miete für seine Wohnung und für die kleine Garage, in der er sein Fotoequipment lagert, bleiben ihm gerade einmal 130 Euro zum Leben.
Leben, das heißt für Flanke aber auch, ein Telefon zu nutzen, einen Internetanschluss zu haben und Gebühren für die Webseite und die nötigsten Versicherungen zu bezahlen. Das ergibt einen Rest von knappen 80 Euro monatlich. 2,66 Euro pro Tag, von denen er sich ernähren muss. Medikamente oder Fahrkarten für den öffentlichen Nahverkehr kann er sich kaum leisten.
10.145 Euro für einen Lkw-Führerschein
Damit sich seine Lebenslage ändert, teilt ihm seine zuständige Jobcenter-Sachbearbeiterin Ende 2014 mit: „Wir haben da eine Maßnahme für Sie.“ Das Amt steckt Flanke in eine Umschulung. So fällt er aus der Statistik der Arbeitssuchenden heraus. Auf Anraten des Jobcenters wird Flanke nun in rund viereinhalb Monaten zum Lkw-Fahrer umgeschult. Um seinen guten Willen zu zeigen und nicht Gefahr zu laufen, Kürzungen in Kauf nehmen zu müssen, stimmt er der Umschulung nach einer obligatorischen Info-Veranstaltung zu.
Die Maßnahme schlägt beim Jobcenter mit insgesamt 10.145 Euro zu Buche. Zuzüglich seiner Bezüge vom Amt ist Flanke dem Staat während der Umschulung ganze 2.954 Euro pro Monat wert. Auch wenn er an manchen Tagen nicht richtig satt wird und fraglich ist, ob er ohne Berufserfahrung in dem Bereich je eine Anstellung finden wird.
„Über Geld spricht man ja eigentlich nicht“, sagt Flanke. „Aber als ich gesehen habe, wie viel dieser Führerschein kostet, bin ich fast vom Hocker gefallen.“ In dem Kurs sitzt Flanke mit etwa 15 Männern unterschiedlicher nationaler Herkunft. Einige werden die theoretische und praktische Prüfung mit viel Mühe schaffen. Bei anderen zeichnet sich jetzt schon ab, dass die Sprachbarrieren für den Unterricht und die Tests zu groß sind.
Ob der Fotograf oder einer der anderen den Kurs wirklich machen möchte, um später in dem Beruf zu arbeiten, interessiert erst mal niemanden der Verantwortlichen, die diese Maßnahme beschlossen haben. Einige der Kursteilnehmer haben Flanke bereits im Vertrauen mitgeteilt, dass sie niemals in dieser Sparte arbeiten wollten und dies auch nicht tun werden.
„Da stimmt doch was nicht“
Flanke sieht das anders als seine Kollegen. „Ich mache diesen Trucker-Kurs jetzt erst mal zu Ende“, erklärt er. „Vielleicht fahre ich ja dann demnächst mit Tomaten aus Spanien zu Aldi an den Niederrhein“, fügt er mit einer schwer erkennbaren Mischung aus Ernst und Sarkasmus hinzu. Seine finanzielle Lage wird sich durch den neuen Job vermutlich nicht ändern. „Laut Umschulungsleiter würde ich dann ungefähr 1.360 Euro brutto verdienen, also den Mindestlohn.“ Das ergebe bei seiner Steuerklasse und seiner Krankenkasse einen Nettolohn von etwa 1.020 Euro. „Ziehe ich davon meine monatlichen Kosten ab, bleibt mir da doch wieder nichts übrig.“
Bei einer Vollzeitbeschäftigung als Lkw-Fahrer blieben ihm nach Abzug der Lebenshaltungskosten wie Miete, Nebenkosten, Telefon und Internetgebühren rund 300 Euro pro Monat zum Leben. Der Hartz IV-Satz zur Sicherung der Lebenshaltungskosten liegt aktuell bei 399 Euro monatlich. Flanke spielt mit diesen Zahlen auf einem Notizblatt und fragt resigniert: „160 Stunden arbeiten pro Monat, damit ich am Ende 300 Euro für Essen, Kleidung und ein Mindestmaß an Mobilität übrig habe? Da stimmt doch was nicht.“
Knallharte Disziplin erforderlich
Bei diesen Zahlen stimmt tatsächlich etwas nicht. Die Lebenshaltungskosten unterscheiden sich sehr stark zwischen Großstädten und ländlichen Regionen, insbesondere was die Mieten betrifft. Laut Armutsbericht der Bundesregierung vom 19. Februar 2015 gilt als arm, wer als Single in Deutschland pro Monat nicht mehr als 892 Euro zur Verfügung hat. Flanke ist Single, lebt in einer Großstadt und zahlt insgesamt rund 730 Euro für seine Miete inklusive aller Nebenkosten und für die Lagerung seines Studioequipments. Bewirbt er sich auf günstigeren Wohnraum, kann er sich ohne Gehaltsnachweise und mit seiner aktuellen Schufa-Auskunft hinter den meist 50 anderen Bewerbern anstellen. Die Vermieter ziehen ihn wegen seines finanziellen Hintergrunds überhaupt nicht in Betracht.
„Das Ganze funktioniert nur mit knallharter Disziplin und der totalen Veränderung deines Konsumverhaltens“, beschreibt Flanke seinen Umgang mit Geld. So schnell will er nicht aufgeben, sagt er, und zeigt sich trotz der desolaten Lage kämpferisch und ausdauernd.
Absagen wegen Überqualifikation
So bewirbt Flanke sich weiterhin regelmäßig auf offene Fotografenstellen im Umkreis von 100 Kilometern seines Wohnorts. Doch welcher Passfoto-Anbieter aus Bergisch-Gladbach möchte einen Globetrotter wie Flanke anstellen, dessen Kunden vom Erstligaclub der Bundesliga bis zur teuersten deutschen Automarke reichten? Also erhält er nur Absagen. Begründung: überqualifiziert.
Der Fotograf gilt beim Jobcenter als Anspruchsberechtigter, obwohl er keine Sozialversicherungsbeiträge als Selbstständiger geleistet hat. Beantragen Menschen wie er Hartz IV, besteht für sie auch während der Arbeitslosigkeit und Jobsuche die Möglichkeit, gewisse mit dem Beruf verbundene Ausgaben mit den Einnahmen zu verrechnen. Tut Flanke dies nicht, weil er kaum Ausgaben hat, darf er lediglich einen geringen Betrag pro Monat hinzuverdienen. In seinem Fall sind das 160 Euro. Alles, was darüber hinausgeht, erhält das Jobcenter – so wie bei seiner Lehrtätigkeit. Ein Teufelskreis, wegen dem es ihm schwer fällt, finanziell endlich wieder unabhängig zu werden.
Zeit, über Geld zu sprechen
In Anbetracht von Flankes Situation scheint es durchaus an der Zeit, über Geld zu sprechen. Das Verschweigen von Einkünften scheint ein in Deutschland besonders ausgeprägtes Tabu zu sein. Armut hat auch etwas Beschämendes. Doch bei 12,5 Millionen Armutsgefährdeten in der Bundesrepublik müssen sich Politiker von Bund und Ländern die Frage gefallen lassen, ob die Maßnahmen, die die Jobcenter ergreifen, die richtigen sind.
Vielleicht wäre für Flanke statt des Lkw-Kurses ein Coaching angemessener gewesen? Ein Coaching, bei dem er motiviert wird, wieder selbstbewusst in seinem gelernten Beruf aufzutreten, Kunden und Neuaufträge zu akquirieren und somit über kleinere Aufträge wieder zu größeren zu gelangen. Doch vorerst wird er voraussichtlich als Trucker spanische Tomaten am Niederrhein ausliefern. Bei dem zu erwartenden Nettolohn wird Flanke im Rentenalter dann wieder Nummern ziehen müssen, um sich als Aufstocker in eine Warteschleife beim Amt einzureihen.
*Name von der Redaktion geändert
Oder statt eines Coachings ein Workshop zum Thema Buchhaltung und Steuern? Es gibt so viele sinnvolle Möglichkeiten, aber die Arbeitsagentur scheint das Geld mit vollen Händen rausschmeißen zu wollen – wie erst gestern bei Wallraff gesehen. Deutschland, was ist nur aus dir geworden?!
Danke für den kritischen Beitrag.
Meine Güte. Der Artikel bringt es auf den Punkt.Armes Deutschland.Diese Ämterwahnsinnigen habe ich schon am eigenen Leib erleben dürfen und bin froh, aus der Nummer wieder rausgekommen zu sein.
Treffende Situationsbeschreibung eines Selbstständigen, wie es sie zu zigtausenden gibt. Die Steuergesetzgebung ist in deutschland eh zu kompliziert und begünstigt allenfalls Einkommen die auf 40000 bis 50000 Brutto im Jahr kommen, alle anderen Selbstständigen die darunter liegen, werden schnell Probleme bekommen , wenn es mal ungünstige Lebensituationen gibt. Mir fallen da auch all die scheinselbständigen Kreativen und Andere ein, die eigentlich lieber eine Festanstellung hätten, wo es aber für Firmen bequemer ist, Menschen in diese prekären Situationen abzuschieben.
Das Verhalten des Arbeitsamtes ist mir aus Erzählungen von Freunden recht bekannt, reine Geldverbrennung an den Bedürftnissen der betroffenen Arbeitslosen vorbei.
Krasses Beispiel! Da packt man sich echt an den Kopf… Aber es gibt auch durchaus positive Beispiele und ich bin heilfroh, dass wir überhaupt ein so facettenreiches Sozialsystem haben.
Da stimme ich Sandra voll und ganz zu… Die Menschen die sich für die Selbständigkeit Entscheiden leisten einen wesentlichen Beitrag für unsere Wirtschaft desweiteren entstehen dadurch weitere Arbeitsplätze sowie Lehrstellen.
Und unser Staat arbeitet komplett in eine andere Richtung. In den Jobcenter heißt es immer gleich Umschulung ob Arbeitslos oder Harz IV Hauptsache die Statistik schreibt bessere Zahlen. Das ist doch nicht mehr Menschlich… Traurig…
Das wesentliche der Mensch geht verloren
Sehr visuell, läuft wie ein Film ab, und ist leider doch so wahr.
Hab ich gern gelesen und fühlte mich gleichzeitig an amerikanische Verhältnisse erinnert – so schnell kanns gehen….
vom Millionär zum Tellerwäscher; umgekehrt war mal!
Frau Knezevic und Herr Wallraff, vielleicht solltet Ihr demnächst ein gemeinsames Projekt starten!
Guter Artikel, von Anfang bis Ende gelesen. Danke an die Autorin… Berührt, nachdenklich, irritiert, trotzdem motiviert setze ich mich jetzt wieder an meinen Rechner und hoffe, dass meine Akquise Früchte trägt um endlich bald wieder von meinen Aufträgen richtig Leben und die Steuern zahlen zu können oder vielleicht doch besser eine passende Teilzeitstelle zu finden…?!?
Prävention könnte auch hier die beste Strategie sein. Hätte es die Möglichkeit gegeben, dass Flanke schon zu Zeiten der Selbstständigkeit für einen Bruchteil des Geldes, das ein LKW-Führerschein kostet, in Sachen Buchhaltung geschult wurde, wären ihm das Jobcenter vielleicht erspart geblieben. Für ein System, das den Bedarf erkennt, und jeden abholt, wo er steht!!
Abholt? Jetzt gehts aber los. Hätte er sich doch selber informieren können, anstatt das Geld einfach auszugeben.
Exzellent beschrieben! Wie in vielen staatlichen Bereichen wird ganz besonders hier sehr deutlich, wie sinnfrei Gelder verschleudert werden!