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Von guten und schlechten Traditionen

Von Raul Krauthausen / 7. Mai 2019
picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Martin Schutt

Einrichtungen für Menschen mit Behinderung starteten mit einem Versprechen. Und wurden zu einer klassischen Komponente deutschen Alltags – aber auch unbeweglich und wenig hilfreich. Zeit für neue Ansätze.

Ich bin kein Dauerrevoluzzer, der 24 Stunden am Tag mit wehenden Fahnen durch die Straßen wuselt. Alles neu? Das wäre mir ein Grauen. Denke ich an Traditionen, merke ich: Die sind für mich wichtig. Sie geben Halt und Orientierung. Und meistens existieren sie, weil sie einen Sinn für die Gegenwart ergeben. Ob auch für die Zukunft, sollte man natürlich überprüfen, wenn die Zeit dafür gekommen ist.

Ich weiß, welche Bäckerei welches Brot in meinem Kiez bereithält, mag Kartoffeln, wie meine Mutter sie zuzubereiten gelernt hat und halte es für eine überflüssige Tradition, die Tagesschau noch immer im TV zu schauen, aber für keine lästige. Viele Traditionen entstehen aus dem Motiv heraus, Gutes zu schaffen und zu bewahren.

So war es auch mit Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen wie Werkstätten oder Wohnheime. Sie haben sich in Deutschland längst etabliert, 200.000 Menschen, zum Beispiel, arbeiten in den Werkstätten; der Weg dort hinein ist für viele traditionell, ja selbstverständlich. Die Werkstätten scheinen von der Mehrheit der Deutschen auch nicht in Frage gestellt zu werden – man hält sie vielleicht nicht für die Ideallösung, aber für „ganz okay“. Dass die wenigsten Menschen ohne Behinderung ein genaues Bild davon haben, fällt dabei kaum ins Gewicht.

Die Geschichte dieser Einrichtungen ist eine des guten Willens. Sie wollten mit einer furchtbaren Zeit brechen und eine bessere begründen. Um nicht zu vergessen: Vor 80 Jahren war Deutschland lebensgefährlich für Menschen mit Behinderung. Viele wurden erst weggesperrt, dann machten sich die Regierenden gar an ihre massenhafte Ermordung. Nach dem Zweiten Weltkrieg drohte nicht mehr der Tod, aber ein Dasein in Verwahranstalten. Neue Wohnheime und Werkstätten setzten dem ein Ende. Man wollte Menschen mit Behinderung mehr schützen, zunächst setzte sich sogar der Begriff der „Schützenden Werkstätten“ durch. Sie sollten es besser haben und sich auch ein Stück weit ausprobieren, jenseits konventionellen Arbeitsdrucks. Doch diese zur Tradition gezimmerte Sitte wirkt heute unlebendig und für viele, in Zeiten der Inklusion, wenig sinnvoll.

Denn der gute Wille mutierte zu einem Paternalismus, über den ich hier schon viel geschrieben habe. Man entschied über andere, ohne sich genügend zu fragen, ob die nicht besser mitentscheiden: Wo und wie sie leben wollen und können, welche Arbeit am besten ist, in welchem Umfeld, mit welchen Anforderungen und welchem Lohn. Paternalismus beschreibt Menschen mit Behinderung wie zu hätschelnde Teddybären, aber dieses Bild kommt der Wirklichkeit wenig nah. Auch ist die Tradition der Werkstätten derart gewachsen, dass sie sich zu einem sich selbsternährenden System entwickelte, welches Fragen wegdenkt: Ist ein Mensch in einer Werkstatt, kann er nicht die Arbeitslosenstatistik verunzieren. Unternehmen sparen durch Aufträge an Werkstätten Steuern, tun sich also Gutes. Wahrgenommen wird jedoch: Sie tun Gutes, auch wenn sie selbst keine Angestellten mit Behinderung haben (wollen). Neue gesellschaftliche Herausforderungen werden gescheut, alles bleibt in einem Rahmen, den die Mehrheitsgesellschaft selten betrachtet – denn die Leute in den Werkstätten bleiben unter sich. Man tauscht sich mit ihnen nicht aus, kriegt kaum voneinander mit, Scheuklappen auf und weiter lebt die Tradition!

Paternalismus beschreibt Menschen mit Behinderung wie zu hätschelnde Teddybären

Auch viele Wohneinrichtungen prägen diese Isolierung. Es gibt etliche Bemühungen um ein gutes Leben dort: nicht nur reinen Verwaltungscharakter, durchaus Modernität versuchende Konzepte. Doch der Weg in ein Wohnheim scheint normal, bewährt – aus Sicht der Menschen ohne Behinderung. Was aber, wenn jemand nicht nur lieber, sondern auch besser allein wohnt? Wie wird darauf eingegangen? Die Wohnheime sind wie Werkstätten zu Elementen riesiger Sozialkonglomerate geworden, getragen von Sozialverbänden, die vieles wollen, aber sicher nicht ihre eigene Arbeit in Frage stellen.

Genau das sollte indes geschehen. Eigentlich sind wir alle doch schon weiter. Andere Bewegungen, wie die diverser Frauengruppen oder LGBTIQ+, haben mehr für sich erreicht – zum Vorteil der Gesellschaft. Bei Menschen mit Behinderung ist die Erkenntnis vorhanden, wie wohltuend Selbstbestimmung auch für sie ist. Aber angegangen wird sie viel zu wenig. Denn da steht ein weißer Elefant im Raum, der drückt sie weg. Es ist die Beibehaltung all dieser tradionellen Einrichtungen.

Dabei geht es nicht um eine Revolution! Nicht darum, Betroffenen, die in diesen Einrichtungen aktuell zufrieden sind, alles wegzunehmen. Ein Bewohner mag sein Heim vielleicht besonders? Soll er darin leben. Ohne Stress in einer Werkstatt mit guten Kolleg*innen Warndreiecke für einen Automobilkonzern verpacken gefällt einer Mitarbeitenden ungemein? Sollte sie machen können. Aber für viele andere Menschen mit Behinderung ist so viel mehr machbar. Denken wir vielfältiger, an die Möglichkeiten, an Neues – dann bleibt eine Tradition sinnvoll, weil elastisch und zukunftsgewandt.

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