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Von Landeiern und Stadtsnobs

Von Raul Krauthausen / 5. November 2018
picture alliance / imageBROKER | Klaus Rein

Stadt versus Land? Gegensätze zwischen dem Urbanen und der Provinz werden oft beschworen. Doch was heißt das für ein Leben mit Behinderung, fragt unser Autor?

Gleich zu Beginn ein Bekenntnis: Ich bin ein Stadtkind. Es ist wahr. Keine Ahnung habe ich von Pflanzen, Tieren und Natur überhaupt; auf dem Land lebte ich nie. Das Dörfliche, das war für mich: Urlaub, EDGE-Mobilempfang, Abschalten. Ich mag die Ruhe und die Weite auf dem Land, die Gemütlichkeit – oder was ich dafür halte, denn siehe oben: Eigentlich habe ich keine Ahnung.

Oft stelle ich mir daher die Frage, wie es wohl für mich gewesen wäre, hätte ich nicht in Berlin-Kreuzberg gelebt, sondern in Hintertupfingen oder irgendwo in der Mark Brandenburg – oder ich wäre in meinem Geburtsland Peru aufgewachsen. Ich fürchte, für einen Glasknochenbesitzer wie mich wären meine Chancen schlechter gewesen. Aber worauf genau? Das weiß ich selbst nicht wirklich. Es ist mehr ein Bauchgefühl, das andere eventuell teilen. Schließlich leiten mich wie jeden Anderen Vorbehalte, und die sind bekanntlich des Öfteren nicht der Weisheit letzter Schluss.

Ich habe also mal in den Wald hineingerufen, und zwar in den digitalen: Wie ist das Leben in der Stadt und auf dem Land für Menschen mit Behinderung? Die Antworten aus den Netzwerken waren so unterschiedlich wie zahlreich, nur in einem waren sich alle einig – der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) mag auf dem Land für Nichtbehinderte ausbaubar bis lästig sein, für Menschen mit Behinderung dagegen ist er eine Plage! Eine Taktung zum Einschlafen und oft unberollbar. Bürgersteige, die zuweilen mehr einer Offroadrallye ähneln. Noch dazu, ganz konkret: je hügeliger, desto kniffliger. Dort, wo ich gerade wohne, sind die Bürgersteige meistens abgesenkt. Nur das oft noch alte Kopfsteinpflaster nervt.

Stadtbewohner_innen wandten wiederum ein: Auch im Urbanen ist nicht alles Gold, was glänzt. Viele Behörden sind in alten Gebäuden wie Trutzburgen untergebracht, und zig Bahnhöfe nicht barrierefrei.

Generell aber kritisierten viele Kommentare, dass die Wege auf dem Land länger sind. Das gilt insbesondere für Kinder, die keine inklusiven Regelschulen besuchen, sondern auf die weit verstreuten Förderschulen müssen. Ein Vorteil der Provinz in Sachen Streckenleistung: Dort kann man wenigstens mit dem Auto überall heranfahren und hat dadurch eine gewisse Flexibilität gegenüber dem beschränkten Parkraum in der Stadt. Wer allerdings kein Auto hat – hat es schwer. Die Stadt erleichtert spontanes Handeln in der Regel, während auf dem Land mehr geplant werden muss. Ihr Leser_innen mögt nun denken: Das gilt doch für alle. Stimmt, aber für Menschen mit Behinderung scheinen vor allem die Eigenarten des Landlebens in manchen Fällen knallharte Konsequenzen nach sich zu ziehen.

Kopfsteinpflaster nervt – in der Stadt genauso wie auf dem Land

Beispiel: Das Leben auf dem Land kommt irgendwie persönlicher daher, alles ist konkreter und nachhaltiger in seinen Auswirkungen. Das gilt im Schlechten wie im Guten. Zwar heißt es einerseits, in Landcliquen komme man schwerer hinein, auch herrschten zuweilen komplizierte Dorfstrukturen vor, die recht exklusiv seien. Andererseits werde man durch die persönlicheren Beziehungen weniger angestarrt, gehöre mehr dazu, sei „eine_r von uns“.

Auch sei ein_e Dorfbewohner_in mit Behinderung eher gezwungen ein „normales“ Leben zu führen, eben sich unter den „Normalen“ zurechtzufinden. Es gibt ja auf dem Land weniger Initiativen und Treffpunkte für Menschen mit Behinderung.

Andere widersprachen: Gerade die Stadt garantiere ein Gefühl der „Normalität“, wegen der Möglichkeit des Abtauchens in der Masse, die in ihrer Vielschichtigkeit genug anderes “Anschauungsmaterial” für Neugierige bereithält – oder die sich dafür halten. Fürs Land schimmert die Regel durch: Entweder du tauchst komplett in die dörflichen Strukturen ein – oder du bleibst komplett außen vor. Der Umgang auf Ämtern in der Provinz sei direkter als in der Stadt, man kenne sich halt. Und fühle sich sicherer, aufgehobener.

Nun, ich persönlich habe immer meine Stadt Berlin als Dorf empfunden, oder besser: als eine Ansammlung von Dörfern, in sich autonom und mit jeweils einem Kiez, innerhalb dessen ich alles erledigen und erleben kann: einkaufen, arbeiten, Freunde treffen, Ärzte konsultieren und mich auf Ämtern langweilen. Berlin ist für eine Hauptstadt herrlich provinziell!

Dem entgegneten die Stadtbefürworter_innen, für sie sei es leichter, Assistenten_innen zu finden – dank mehr Auswahl. Auch komme man mit wenig Geld in der Stadt besser über die Runden. Stimmt nicht, erwiderten die Leute aus der grünen Ecke, in der Stadt grassieren die steigenden Mieten. Und in der Stadt hätten es alle eiliger, das nerve. Die Städtler_innen wiederum beklagten sich über das viel zu langsame Internet auf dem Land, welches für Menschen mit Behinderung eine noch elementarere Bedeutung hat als für Nichtbehinderte. Denn das Internet erspart dem Menschen manche Bewegung – und diese ist für welche mit Behinderung eben mit mehr Aufwand verbunden.

Berlin ist ein Dorf und für eine Hauptstadt herrlich provinziell

Ich glaube, ich bin komplett verstädtert. Das Leben ist eben kein Urlaub; wenn ich den für kurze Zeit auf dem Land haben kann, reicht mir das. Ich liebe die Mobilität Berlins, das Grundrauschen, diesen steten Fluss – und damit die vielen Geschichten, die hier zusammenfinden. Nicht ausgeschlossen, dass das Landleben mir diesen Zustand irgendwann nicht auch geben könnte. Aber die Stadt schenkt mir jeden Tag ein Stück ihrer Kreativität.

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