Vorwärts in die Vergangenheit?
Sie haben es schon wieder getan. Innerhalb von zweieinhalb Jahren erlebt Ägypten seinen zweiten Militärputsch. Nachdem der erste, im Februar 2011, eher im Hintergrund verlief und darin bestand, dass die Generäle dem strauchelnden Präsidenten Husni Mubarak die Unterstützung versagten, mischten sie sich dieses Mal noch deutlicher ein. Nachdem Präsident Mohammed Mursi ein von der Militärführung […]
Sie haben es schon wieder getan. Innerhalb von zweieinhalb Jahren erlebt Ägypten seinen zweiten Militärputsch. Nachdem der erste, im Februar 2011, eher im Hintergrund verlief und darin bestand, dass die Generäle dem strauchelnden Präsidenten Husni Mubarak die Unterstützung versagten, mischten sie sich dieses Mal noch deutlicher ein. Nachdem Präsident Mohammed Mursi ein von der Militärführung gesetztes Ultimatum verstreichen ließ und sich außer einigen wahrscheinlich eher taktisch motivierten Konzessionen keine großen Zugeständnisse abringen ließ, erklärte Verteidigungsminister Al-Sisi ihn für abgesetzt und legte in Absprache mit Oppositionsführer Mohamed El Baradei, dem Scheich der Azhar-Universität sowie dem koptischen Patriarchen eine sog. Roadmap vor. Diese sieht zunächst vor, dass neben der Absetzung Mursis und der Aussetzung der Verfassung der oberste Verfassungsrichter des Landes bis zu Neuwahlen Interimspräsident sein solle. Die Anti-Mursi-Demonstranten in Kairo und anderen großen Städten bejubelten den Eingriff des Militärs frenetisch. Die ganze Nacht durch erhellte Feuerwerk die Hauptstadt.
Die Unzufriedenheit der Menschen mit Mursi, seiner Politik und seinem Regierungsstil ist keine Überraschung. Tatsächlich hatte sie sich in den vergangenen Monaten sogar unter seinen ehemaligen Wählern breit gemacht und schließlich zu jenem großen Bündnis geführt, das unter dem Namen Tamarud (Rebellion) das einjährige Antrittsjubiläum Mursis nutzen wollte, um seine Amtszeit durch Massenproteste zu beenden.
Fakt ist, dass Mursi nicht geliefert hat: Die Wirtschaft liegt am Boden, der Tourismus ebenso, der Treibstoff ist knapp und Arbeitsplätze gibt es auch zu wenige. Die extrem wichtige Chance zur Herausbildung eines nationalen Konsenses über die Zukunft des Landes wurde durch das einseitige Durchpeitschen der Verfassung verspielt. Nein, Demokratie hatten Mursi und die ihm nahestehenden Muslimbrüder nicht praktiziert. Vielmehr schien in ihrem Verständnis ein klarer Parlamentswahlerfolg (und ein übrigens viel weniger eindeutiger Präsidentschaftswahlsieg) zu genügen, um die Diktatur der Mehrheit zum Prinzip zu erheben. Seine vollmundigen Ankündigungen nach der Wahl hatten sich rasch in Rauch aufgelöst. Insofern sind der Protest und die schlussendliche Absetzung des Präsidenten durchaus zu verstehen. Mursi klammerte sich bis zuletzt an den Grundsatz, er sei legitim gewählt. Ein Präsident aller Ägypter ist er dabei aber nie geworden.
Wie legitim kann ein Putsch sein?
Und auch weltweit werden sich einige Entscheider – wenn vielleicht auch hinter vorgehaltener Hand – durchaus mit dem neuen Szenario am Nil anfreunden können. Die Angst vor einem „islamischen Frühling“ in der Region ist in vielen Köpfen weit verbreitet. Und unterstützen nicht die ägyptische Opposition und die wichtigsten religiösen Führer des Landes den Eingriff des Militärs? Ist der Putsch nicht deshalb eher das notwendige Eingreifen der einzigen noch stabil funktionierenden und mit Autorität ausgestatteten Institution im Land?
Genau dieser Umstand gibt aber Grund zur Sorge. Legitim zur Macht gekommen und deshalb unangreifbar zu sein, kann zwar nicht die Ultima Ratio sein. Die deutsche Geschichte bietet (mindestens) ein eindrückliches Beispiel. Dennoch liegen die Fakten hier anders.
Ägypten ist zutiefst gespalten. Während alle Welt auf den Tahrir-Platz schaute und mit der Opposition mitfieberte, muss doch klar festgestellt werden, dass viele, viele Ägypter auf der anderen Seite dieses Grabens stehen. Ein politischer Analyst beschrieb die Stimmung unter den Pro-Mursi-Demonstranten mit „wütend“ und „aggressiv“. Es bleibt sehr zu hoffen, dass die Muslimbrüder, die sich aufgrund ihrer historischen Leidenserfahrungen mit Folter, Gefängnis und Mord auskennen, einen friedlichen Weg wählen werden. Dann, und nur dann, kann der Putsch etwas Positives in Bewegung setzen. Wenn sich letztlich alle beteiligten Gruppen zusammensetzen und politische Kompromissbereitschaft erlernen, war das Eingreifen des Militärs vielleicht das notwendige Druckmittel, das bisher gefehlt hat. An Konsenswilligkeit hatte es jedoch nicht nur auf einer Seite gefehlt. Auch die Opposition hat einen Anteil an der negativen und zum Teil gewalttätigen Entwicklung auf den Straßen und in den Köpfen Ägyptens. Ihre Gründe für die Rücktrittsforderungen – fehlende Reformen, wirtschaftlicher Niedergang, problematisches Demokratieverständnis – werden es jeder zukünftigen Regierung schwer machen.
Insofern beobachten wir derzeit nur Verlierer in Ägypten. Eine Massenbewegung, die sich nach Jahrzehnten der Illegalität und Verfolgung endlich befreit wähnte und sich nun möglicherweise radikalisiert; eine Opposition, die nach wie vor keine gemeinsamen Konzepte anzubieten hat außer der Forderung nach einer Absetzung des Präsidenten, sowie schlussendlich eine junge Demokratie, deren Institutionen nicht geachtet und respektiert werden.
Mit Mursi ist ein sich undemokratisch und unbelehrbar verhaltender Präsident nun Geschichte. 2011 haben sich die Generäle, übrigens auch auf den Druck der Straße hin, schnell wieder aus dem politischen Geschäft zurückgezogen. Ob sie dies auch diesmal zu tun bereit sind, ist unklar. Es bleibt nun zu hoffen, dass alle am Machtkampf beteiligten Akteure einen Weg des kleinsten gemeinsamen Nenners finden. Andernfalls könnte sich der von vielen bejubelte Putsch schnell als Pyrrhussieg herausstellen und es für die Demokratie in Ägypten düster aussehen. Besonders gälte dies für den Fall, dass die Muslimbrüder aufgrund der jüngsten Entwicklung demokratische Prozesse rundheraus ablehnen und den Weg des gewalttätigen Widerstands wählen. Dies könnte nicht nur kurzfristige, gewaltsame Auswirkungen haben, sondern würde auch auf einer grundsätzlicheren Ebene die Frage aufwerfen, ob Islamisten nach den Erfahrungen der Hamas im Gazastreifen oder der Muslimbrüder in Ägypten dem „Experiment Demokratie“ nochmal eine Chance geben würden.
Es bleibt zu hoffen, dass die Hoffnungen der Massen, die durch ihr entschiedenes Auftreten während der jüngsten Proteste zum Sturz Mursis beitrugen, erfüllt werden. Die Menschen forderten 2011 neben sozialen Verbesserungen vor allem ein neues, demokratisches System. Gerade die demokratisch gesinnten Aktivistinnen und Aktivisten in Gewerkschaften, Aktionsgruppen oder auch als Einzelpersonen haben unsere volle Unterstützung verdient. Sie fordern nicht zu Unrecht einen Löwenanteil am Sturz Mursis ein. Sollten sich diese Kräfte von der militärischen Einflussnahme emanzipieren und einen konsensualen Weg mit den anderen Akteuren beschreiten – und dazu müssen auch die Muslimbrüder gehören – könnte die Entwicklung Ägyptens einen positiven Weg nehmen. Wie belastbar das Oppositionsbündnis aber wirklich ist, wird sich erst noch zeigen müssen. Auf einen Regierungschef Mohamed El Baradei konnte man sich schon mal nicht einigen.
Sehr gute Zusamnmenfassung der zahlreichen Zwickmuehlen und drohenden Szenarien im derzeit wieder offen an den Tag getretenen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen (Rolle des Militaers!) Desaster in Aegypten.
Wir als Verfechter des demokratischen Wegs muessen uns einer schmerzhaften, aber entscheidenden Frage stellen: Folgen wir einem quasi Demokratie-Imperativ und forden auch die demokratische Beteiligung von Demokratiefeinden und -zerstoeren, von Gruppen und Denkschulen, die sich mithilfe eines demokratischen Prozesses in eine Position bringen, von der aus sie ebendiese Demokratie aushoehlen, blockieren und zu zerstoeren drohen? Man kann ja beinahe nicht umhin, in diesen Stundend bewundernd – zugeich froestelnd – in den Medien zu verfolgen, wie sich Salafistenfuehrer nun vor jedes Mikro und jede Kamera draengen, und ihre demokratisch legitimierten Rechte einzufordern! Das erinnert doch sehr an die Argumentation und Redefuehrung uns allen bekannter (Neo)Faschisten.
Fuer stellt sich hiermit ganz grundsaetzlich – von ‚ganz praktisch‘ will ich nun mal gar nicht reden – die Frage nach dem Gehalt, der Tiefe und auch Breite einer „unabdingbar erforderlichen Einbeziehung“ islamistischer Gruppierungen. Aus der Erfahrung der letzten Jahre ihres Wirkens in Aegypten und ihrer zu beobachtenden Bestrebungen fuerchte ich leider, dass wir damit bereits wieder dabei waeren, uns von Anfang an auspielen, vielleicht sogar instrumentalisieren zu lassen. Fuer die richtigen Ziele, aber von den gaenzlich falschen Leuten.
Vielen Dank für die spannenden Analysen der Lage in Ägypten! Hier kann man wirklich gute Einblicke in das Geschehen bekommen.
Ich bin auch der Meinung, dass die Einbindung der Muslimbrüder in eine Regierung eine Gefahr für die sich entwickelnde Demokratie wäre.
Nur: die Muslimbrüder werden von einer breiten Bevölkerungsschicht unterstützt. Diese Menschen von der Regierungs- und Meinungsbildung auszuschließen – wäre dies demokratisch?
Sehr geehrter Herr Johr,
Ihr Blog ist in der Tat sehr reflektiert und vielschichtig, was mich aber bei Ihnen wie bei vielen anderen „westlichen“ Kommentatoren stört, ist, dass ein Putsch quasi-legitimiert wird, wenn nur die aus westlicher Sicht „Richtigen“ gestürzt werden. Sie sagen das nicht direkt, aber gerade im Mittleren Osten haben die westlichen Mächte in den letzten 100 Jahren eher Diktaturen als Demokratien gefördert. Und wenn wir uns anschauen, was gerade in Ägypten passiert, sehen wir, dass der Putsch die Ägypter noch mehr spaltet und der Kampf um Demokratie ein Ritt auf der Rasierklinge ist.
Lieber Herr Jakobsen, Sie schrieben, dass der Putsch die Ägypter noch mehr spaltet – ich sehe das anders. Die Muslimbrüder und auch Mursi haben mit ihren grausligen Hasstiraden auf die Opposition (über die man nebenbei gesagt kaum etwas in den westlichen Medien gehört hat) das Land und die Bevölkerung gespaltet. Der Putsch war ein Befreiungsschlag von dieser Athmospähre des Irrsinns, Chaos und Abwertung anderer. Bei Herrn Lanz Vergleich mit den Neofaschisten in Deutschland musste ich erstmal schlucken – aber nun finde ich den Vergleich bezüglich des demokratischen Umgangs mit ihnen richtig gut!!
Mit der neuen Regierung wird hoffentlich nun Raum für eine demokratischere und offene politische Kultur geschaffen!!