Was Europa von Spanien lernen sollte
Sebastian Schoepp hat in Italien und Spanien studiert und den Süden dabei in allen Facetten kennengelernt, den guten wie auch den schlechten. Mehr als Strand und Sonne begeistert ihn der zwischenmenschliche Kontakt in Südeuropa. Der Mensch werde dort viel stärker in seinem Sein als in seiner Funktion wahrgenommen, sagt Schoepp. Seit 2005 ist Schoepp als außenpolitischer Redakteur der Süddeutschen Zeitung für Spanien und Lateinamerika zuständig. 2014 erschien sein Buch „Mehr Süden wagen“, in dem er für eine differenzierte Sicht auf die Mittelmeerländer plädiert und fordert, deren Stärken im europäischen Einigungsprozess besser zu berücksichtigen.
Herr Schoepp, welche Rolle spielen Europa und Europapolitik in der spanischen Öffentlichkeit?
Eine enorme Rolle. Spanien war in der Vergangenheit vielleicht das europafreundlichste Land in der EU. Die Spanier waren 2005 die einzigen Europäer, die bei der Volksabstimmung für die europäische Verfassung gestimmt haben – mit 76 Prozent. Nach langer Zeit am Rande Europas hat sich das Land 1986 sehr über die Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft gefreut. Vom Beitritt hatte man sich viel versprochen: nicht nur Geld, sondern vor allem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt. Das ist auch beides eingetreten. Der gesellschaftliche Fortschritt ist sehr nachhaltig, der wirtschaftliche leider nicht.
Warum war Spanien das europafreundlichste Land? Was hat sich verändert?
Europa hat in Spanien immer eine positive Rolle gespielt. Das hat sich erst durch die Krise verändert. Aber gar nicht so sehr durch die Krise selbst, sondern durch die Behandlung, die die Spanier meinen, von Europa zu erhalten. Sie fühlen sich bevormundet, von außen dominiert durch ein Spardiktat, ähnlich wie Griechenland. Europa ist jetzt nicht mehr der Hoffnungsträger, sondern auch eine Macht, die Spanien zwingt, eine bestimmte Lebensform anzunehmen und soziale Fortschritte aufzugeben. Das hat das Europabild nachhaltig geschädigt.
Heißt das umgekehrt, dass Europa heute als Ort der Hoffnungslosigkeit in Spanien gesehen wird?
Hoffnungslosigkeit auf keinen Fall. Allerdings hatten sich die Spanier ein besseres Standing in Europa erhofft. Sie hatten erwartet, dass Probleme in einem Dialog gelöst würden und nicht durch ein auferlegtes Diktat aus Brüssel. In Spanien wünscht man sich weniger Dominanz von außen. Man wünscht sich einen partnerschaftlichen Prozess.
Wie verortet sich Spanien in der EU? Sieht man sich als Teil des europäischen Südens und solidarisiert sich mit Griechenland, oder grenzt man sich von anderen Krisenländern eher ab?
Anfangs, zu Beginn der Krise, hat man sich stark abgegrenzt. Da verging kein Tag, an dem keine spanische Zeitung titelte „Spanien ist nicht Griechenland!“. Allerdings wurde Spanien dann in die Rubrik Krisenländer subsummiert. In der englischen Finanzpresse gab es dieses sehr unschöne Akronym PIGS (Portugal, Italien, Griechenland, Spanien). Plötzlich war Spanien beim „Süden“ dabei, zu dem man eigentlich gar nicht mehr gehören wollte. Man hatte angenommen, man habe aufgeschlossen zur europäischen Spitze.
Kann man überhaupt von „dem Süden“ sprechen?
„Den Süden“ gab es so nie. Erst die Krise hat dazu geführt, dass man plötzlich Gemeinsamkeiten entdeckt hat. Solidarität ist auf gesellschaftlicher Ebene verankert und wird vor allem durch den Austausch und in sozialen Netzwerken gelebt. Man realisiert, dass einen aufgrund ähnlicher historischer Entwicklungen gleiche soziale und wirtschaftliche Probleme umtreiben. Allerdings spiegelt sich dieses Empfinden in der aktuellen Politik nicht wider. Deswegen hat sich bisher auch keine Südallianz gebildet. Dafür sind die politischen Lager zu unterschiedlich.
Man grenzt sich ab?
Die herrschenden Konservativen in Spanien haben enorme Angst, so wie die Konservativen in Griechenland von einer linken Protestbewegung weggespült zu werden, die auch in Spanien sehr stark ist. Deshalb haben sie in den vergangenen Monaten versucht, sich stark von Syriza abzugrenzen. In der Bevölkerung hingegen habe ich den Eindruck, dass es eine starke Griechenland-Solidarität gibt. Man wird sehen, inwieweit sich diese Stimmung bei den anstehenden Parlamentswahlen im Dezember ausdrückt.
Wie schätzen Sie die Stimmung vor den Wahlen ein? Wird mehr, weniger oder ein anderes Europa gefordert?
Ganz klar ein anderes Europa. Europa an sich wird nicht in Frage gestellt. Europa ist nach wie vor ein Hoffnungsträger. Aber man wünscht sich einen anderen Umgang. Auch die Protestpartei Podemos ist nicht europaskeptisch. Sie hätten nur gerne andere Regeln. Man wünscht sich ein Europa, das nach sozialen Regeln funktioniert und nicht nach den Regeln des Finanzmarktkapitalismus.
Wie wird Deutschlands Rolle in der Eurokrise in Spanien wahrgenommen?
Es wird eine ganz starke deutsche Dominanz festgestellt. Eigentlich dauernd, täglich, an jedem Ort, überall. Die Menschen fühlen sich unterdrückt. Spanien war Deutschland eigentlich immer neutral bis positiv gegenüber eingestellt. Die Spanier haben die Deutschen nie als Besatzer kennengelernt, sondern immer nur als Touristen. Ich glaube, die Spanier haben gar nicht so sehr etwas gegen eine führende deutsche Rolle. Man traut Deutschland Einiges zu. Allerdings möchte man mit eingebunden werden. Man möchte sich nicht als Peripherie fühlen.
Kommt Spanien in der medialen Berichterstattung in Deutschland zu kurz?
Sollte es einen Linksruck in Spanien geben, dann steht Spanien ganz schnell wieder im Mittelpunkt. Derzeit wird in der Berichterstattung zwischen den Südländern, die dem deutschen Wirtschaftsmodell nicht genügen, gar nicht mehr differenziert. Weil aus Griechenland Widerstand gekommen ist, hat das Land einen Spitzenplatz in der deutschen Öffentlichkeit eingenommen. Solange in Spanien – überspitzt gesagt – Ruhe herrscht, hält sich die Kritik und Berichterstattung in Grenzen. Während der Immobilienkrise wurde viel berichtet. Auch über die Arbeitsmigration junger Akademiker wird viel geschrieben. Dennoch: Jenseits der Strände ist über Spanien nicht viel bekannt. Das Spanienbild der Deutschen ist geprägt von Mallorca und anderen Klischees.
Ihr jüngst erschienenes Buch hat den Titel „Mehr Süden wagen“. Was meinen Sie damit?
Wirtschaftlich, kulturell und sozial hat sich Spanien ganz anders entwickelt als Mitteleuropa. Die bürgerliche und die industrielle Revolution haben nicht in gleicher Form stattgefunden. Die Aufklärung kam verspätet, was mit der dominanten Rolle der katholischen Kirche in Spanien zu tun hatte. Das hat zur Entwicklung eines anderen sozioökonomischen Modells geführt. Der spanische Philosoph Goytisolo hat gesagt, der Homo Oeconomicus sei in Spanien nie richtig angekommen. Das wirtschaftliche Denken und der wirtschaftliche Fortschritt haben nie so eine zentrale Rolle in Spanien gespielt. Der individuelle Erfolg ist kein Gradmesser für ein gutes, erfolgreiches Leben.
Was ist stattdessen charakteristisch für die spanische Gesellschaft?
Der Gemeinschaftsgedanke spielt in Spanien eine wichtige Rolle. Das drückt sich besonders in einem starken Familienzusammenhalt aus. Viele junge Spanier leben viel länger in ihrem Elternhaus als in anderen europäischen Ländern. Das ist ein fundamentaler kultureller Unterschied. Dafür wird Spanien gerne ein bisschen kritisch beäugt. Allerdings haben die Familiensolidarität, der Gemeinschaftsgedanke und eine enge Nachbarschaft auch bedeutende Vorteile. Sie haben Spanien durch die Krise geholfen. Das muss man ganz klar sagen.
Welchen Beitrag kann Spanien zu einer erfolgreichen Zukunft der EU leisten?
Der Sozialstaat war in Spanien nur ein Durchgangsphänomen. Genauso schnell wie er aufgebaut wurde, wurde er während der Krise wieder abgebaut. Und das hat Spanien nur vertragen, weil man auf die starke Familiensolidarität bauen konnte. Das ist ein großer Wert, der bei uns nur gering geschätzt wird. Davon kann man sich etwas abschauen. Bei uns dominieren der individuelle Erfolg und eine gewisse Ellbogenmentalität. Der starke Gemeinschaftsgedanke in Spanien überträgt sich positiv auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das kann letztendlich auch in Europa zu mehr Erfolg führen.