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Was kommt nach Kohle und Stahl?

Von Sebastian Krieger / 17. März 2021
Einblick von außen in die Redaktionsräume von Salon5. Foto: Sebastian Stachorra

Mit den Worten „Tief im Westen“ beginnt „Bochum“ von Herbert Grönemeyer. Überall im Ruhrgebiet können die Menschen diese Stadthymne mitsingen. Sie fühlen sich dieser Region zugehörig, die seit Jahrzehnten einen Strukturwandel durchmacht und ihre neue Identität sucht.

„Du hast ’nen Pulsschlag aus Stahl“ singt Herbert Grönemeyer 1984 in der Zeche Bochum. Dabei gibt es im Ruhrgebiet gar keine aktiven Zechen mehr. Längst sind sie zu Konzerthallen umfunktioniert wie in Bochum. 2018 wurde in Bottrop das letzte Bergwerk Prosper Haniel geschlossen. Kumpel in einst weißer, aber vom Kohlenstaub völlig geschwärzter Bergmannskluft übergaben damals das letzte geförderte Stück „schwarzes Gold“ an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Der Stahlbranche geht es nicht besser. Auch sie ist unter Druck. Der Essener Konzern Thyssen-Krupp ist in der Dauerkrise, hatte gar überlegt, seine Stahlsparte zu verkaufen. Zwar sind noch immer fast 30.000 Menschen in diesem Unternehmensbereich beschäftigt, doch Kohle und Stahl spielen absehbar keine Rolle mehr. Was aber kann jetzt der Kern des Selbstvertrauens, der Identität der Menschen im Pott, wie die Region liebevoll genannt wird, werden?

Es fehlt eine Perspektive nach der Kohle – auch nach 40 Jahren

Das Ruhrgebiet: Das sind mehr als fünf Millionen Menschen, die zwischen Marl und Hattingen, Duisburg und Hamm leben. Der Bochumer Kabarettist und Autor Frank Goosen schreibt in seinem Buch „Sweet Dreams“ über die Achtzigerjahre als „eine Zeit des fortgesetzten Umbruchs“. Was er damit meint? „Das Alte war noch nicht ganz weg, das Neue noch nicht da. Was das Neue sein sollte, weiß man bis heute nicht so richtig.“

In der Bottropper Innenstadt, mit dem Fahrrad weniger als eine Viertelstunde von Prosper Haniel entfernt, entsteht eine Antwort auf diese Frage. Hier hat Salon5 seinen Sitz, die Jugendredaktion des Recherchezentrums Correctiv. Hüdaverdi Güngör ist 25 Jahre alt und leitet Salon5. Goosens Auffassung stimmt er zu: „Alle wollen als Region nach vorne, aber nur wenige haben einen Plan.“ Grund dafür sei, dass die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung zu sehr in ihren kommunalen Strukturen dächten. Das zeige sich beispielsweise im ÖPNV. „Wenn ich von Bottrop nach Dortmund hin- und zurückfahre, zahle ich ganze 30 Euro – für die Fahrt nach Berlin 50 Euro!“

Salon5-Chefredakteur Hüdaverdi Güngör ist bei der Arbeit immer unter Strom. Foto: Sebastian Stachorra

Gefühlt eine große Stadt – verwaltet wie einzelne Kommunen

Auch Taner Ünalgan kritisiert, dass diese Strukturen träger seien als die Denkweise der Menschen vor Ort. Ünalgan sitzt für die SPD im Rat der Stadt Gelsenkirchen. „Mentalitätsunterschiede zwischen den Menschen, zum Beispiel in Oberhausen und Gelsenkirchen, kann ich nicht erkennen.“ Dass vieles nicht regional organisiert ist, sei nicht immer sinnvoll, aber schwierig aufzubrechen, klagt er. Auch hier liefert wieder der ÖPNV anschauliche Beispiele. An den Stadtgrenzen ändern sich die Spurbreiten der Straßenbahnen. In Duisburg wird auf der „Normalspur“ gefahren, in Essen und Mühlheim dagegen auf der „Meterspur“. Die Folge: Weil die Bahnen nur auf jeweils einer Spurbreite fahren können, ist eine durchgängige Verbindung unmöglich. Dabei liegen zwischen den Hauptbahnhöfen in Duisburg und Mühlheim weniger als zehn Kilometer.

Richtige Verbundenheit untereinander aber könne nicht ohne gute Verkehrsverbindungen zueinander entstehen, glaubt Güngör. Dabei gebe es ein geteiltes Grundgefühl: „Wir sind alle Kinder aus dem Ruhrgebiet, das eint uns. Wir identifizieren uns noch immer über den Bergbau.“ Die Redaktion von Salon5 ist deshalb wie eine Zeche aufgebaut: Oben sind Café, Schreibtische und ein Tonstudio, den Keller (mit Greenscreen und Bühne ausgestattet) nennen sie bedeutungsvoll „Schacht 5“.

Die Bergbaukultur prägt auch die junge Generation

Mevize Meryem Candan arbeitet als Chefreporterin und Redakteurin im Salon5, aber so genau nehmen sie es mit den Bezeichnungen hier nicht. Candan ist 17 Jahre alt, macht im Frühling Abitur und kümmert sich parallel sowohl um eigene Projekte als auch darum, KollegInnen in die Redaktionsabläufe einzuarbeiten. Als Candan das erste Mal in den Redaktionsräumen sitzt, fordert Redaktionsleiter Güngör sie auf, sich ein Podcast-Format auszudenken. „Vorgestellt hat Hüda sich erst später“, lacht Candan über die direkte Art des Redaktionsleiters. „Butterecke“ heißt Candans Podcast, benannt nach dem Ort, an dem die Bergleute früher ihre Pausen hatten. „Wo Menschen essen, quatschen sie auch“, sagt sie. Also unterhält auch sie sich: mit ehemaligen Bergmännern, mit den Gründern des Modelabels Grubenhelden oder mit ihren Eltern. Das Ruhrgebiet und die Verbindung zum Bergbau stehen dabei im Vordergrund. „Zechen sind für die Region immer noch prägend“, sagt sie. Und weil die Menschen, die den aktiven Betrieb noch kennengelernt haben, immer älter werden, will Candan mit ihrem Podcast dazu beitragen, „das kulturelle Erbe an die nächste Generation weiterzugeben.“

Abiturientin Mevize Meryem Candan im Gespräch mit ihrem Redaktionskollegen. Foto: Sebastian Stachorra

Für Redakteur Güngör zeigt sich die Gegenwart alter Strukturen vor allem in der Kommunikation, „den kneipenartigen Gesprächen auf der Straße – oder auch dem Wort Kohle. Hier bedeutet das einfach Geld.“ Doch die Zeiten des aktiven Bergbaus würden auch oft romantisiert, insbesondere der Zusammenhalt der Kumpel. „Das Leben im Ruhrgebiet war nicht immer geil“, betont er, „die Leute haben richtig hart gearbeitet.“ Dass die Zeiten des Bergbaus schön gewesen seien, sei nunmal „eine gute Lüge, auf der man aufbauen kann, um eine gemeinsame Grundlage zu finden.“ Auf dieser Basis darf auch Salon5 wurzeln. Jugendliche sollen hier ihre Interessen artikulieren und ihre Umgebung aktiv mitgestalten können. Doch was ist das nun konkret, diese Ruhrgebietsidentität? „Dass man hart arbeiten muss“, antwortet Güngör, „und sich immer wieder neu beweisen.“

Prägend früher wie heute: Demut und Bescheidenheit

So ähnlich klingt das auch bei Taner Ünalgan, dem SPD-Mann aus Gelsenkirchen: „Im Ruhrgebiet prägt uns alle die Idee, dass man arbeiten und sich anstrengen muss“, sagt der 28-Jährige, „in der Hoffnung, dann irgendwann ein wie auch immer geartetes, besseres Leben führen zu können.“ Das klingt nach Demut und dem Streben nach Aufstieg. SPD eben. In „Bochum“ singt Grönemeyer über seine Stadt: „Du bist einfach zu bescheiden.“ Vielleicht ist die genügsame Art unabdingbarer Teil der Ruhrpott-DNA.

Die Halde der Schachtanlage Prosper Haniel ist 90 Meter hoch. Ein kleiner Berg aus Material, das einst unter der Erde gelegen hat. Auf dieser Halde steht das Tetraeder, ein 60 Meter hohes, begehbares Kunstwerk, das nachts leuchtet. Wer auf die knapp 40 Meter hohe Aussichtsplattform der offenen Pyramide steigt, kann weit über das flache Ruhrgebiet blicken. Reporterin Candan kommt gern her. Aber nicht der Ästhetik wegen. „Es ist nur ein Dreieck, allein gibt es mir nichts.“ Was den Ort für sie besonders macht, sind die Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse mit FreundInnen dort. Oder wie Grönemeyer es formuliert:

Du bist keine schönheit

vor arbeit ganz grau

du liebst dich ohne schminke

bist ’ne ehrliche haut

leider total verbaut

aber grade das macht dich aus“

.

.

.

Hinweis:

Im März widmen sich NG/FH und sagwas dem Begriff der IDENTITÄT. Exklusiv für sagwas-Lesende gibt es passend zu der hier thematisierten Stadtgeschichte einen umfassenden Blick in die Ferne – bis Ende des Monats zumindest. So finden sich von Peter Brandt in der aktuellen NG/FH-Ausgabe Gedanken zur „Entsorgung von Geschichte im Stadtbild“ in den USA. Aber auch über Düsseldorf weiß Brandt Interessantes zu berichten. Also, reinschauen und herausfinden, warum wir wem Denkmäler bauen und nach wem wir Straßennahmen benennen!

3 Antworten auf „Was kommt nach Kohle und Stahl?“

  1. Von Sagwas-Redaktion am 18. März 2021

    Auf eine noch immer aktuelle Studie zum Ruhrgebiet aus 2019 verweist die NG/FH-Redaktion unter https://www.frankfurter-hefte.de/artikel/urteil-und-vorurteil-2991/ und wer noch mehr von den KollegInnen zum Thema Identität lesen will: https://www.frankfurter-hefte.de/aktuelle-ausgabe/ Im März 2021 widmen sich sagwas und NG/FH diesem Fokus.

  2. Von Gerd Verse am 31. März 2021

    Interessanter Artikel mit einer anderen Sicht auf die Probleme im Pott

    1. Von Sagwas-Redaktion am 1. April 2021

      Vielen Dank für das Lob! Unser Autor freut sich darüber – und auch, wenn Sie den Beitrag in Ihrem Netzwerk teilen 😉

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