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Wenn Einsamkeit Regierungssache wird

Von Tom Albiez / 24. Februar 2021
picture alliance / Westend61 | Giorgio Fochesato

Einsamkeit ist verbreiteter, als viele denken, und überdies gesundheitsschädlich. Corona verschärft die Lage zusätzlich, denn Isolation und Vereinsamung gehen Hand in Hand. Gegen das Massenphänomen geht Großbritannien auf eine ganz eigene Weise vor. Gut so?

Klar, Corona macht alles schlimmer. Gerne wird die Coronakrise als eine Art Brennglas für ohnehin schon vorhandene gesellschaftliche Probleme bezeichnet. Stimmt ja auch, irgendwie. So wurde bereits lange vor Auftauchen des Virus, im Jahr 2018, in Großbritannien ein Einsamkeitsministerium ins Leben gerufen. Das mediale Echo war groß, manchem erschien dieser Schritt da sicherlich noch albern oder unsinnig.

Fakt ist aber, dass auch ein Jahr nach der Einrichtung des Einsamkeitsministeriums neun Millionen Briten als einsam galten. Das entspricht ca. 14 Prozent der britischen Bevölkerung. Die Notwendigkeit zu handeln war unübersehbar.

Vereinsamung ist nicht nur eine private Tragödie, sondern auch eine ziemliche Belastung für das Gesundheitssystem. Das Risiko, an einer psychischen Erkrankung zu leiden, steigt mit der Einsamkeit. Wobei hier das Henne-Ei-Problem natürlich nicht ganz zu vernachlässigen ist: Menschen mit Vorerkrankungen fühlen sich tendenziell einsamer und eher allein gelassen als solche ohne. Und einsame Menschen besitzen nicht unbedingt die beste Immunabwehr.

Die Wissenschaft hat deshalb festgehalten, dass Einsamkeit so schädlich sei wie das Rauchen von 15 Zigaretten am Tag. Sie ist also einzureihen in risikobehaftete Faktoren wie Übergewicht, Drogenkonsum und viele weitere Gefahren für unsere Gesundheit.

Ein Ministerium zur Würdigung von Jo Cox

Das Gefahrenpotential der Einsamkeit ist allerdings nur ein Grund, warum das Einsamkeitsministerium in Großbritannien überhaupt ins Leben gerufen wurde. Wobei der Begriff Ministerium eigentlich übertrieben ist: Tracey Crouch, die erste “Einsamkeitsministerin“, war außerdem und zunächst einmal Ministerin für Sport und Zivilgesellschaft.

Entscheidender Anlass für die Gründung eines solchen Ministeriums war die Ermordung der Unterhausabgeordneten Jo Cox. Die beliebte Politikerin setzte sich zeitlebens gegen die anwachsende innergesellschaftliche Einsamkeit ein und richtete eine Kommission ein. Außerdem engagierte sie sich für den Verbleib Großbritanniens in der EU, was ihr die Wut eines arbeitslosen, rechtsextremen Gärtners einbrachte. Ihm gelang es, die 41-Jährige auf brutale Weise im Sommer 2016 zu töten. Die darauffolgende Bestürzung war groß, die Anteilnahme ebenso – beides sorgte für eine kurzweilige Zäsur in den unerbittlichen Brexit-Grabenkämpfen. Die damalige Premierministerin Theresa May würdigte die politische Arbeit von Jo Cox, indem sie sich Cox‘ Herzensthema annahm und ein Ministerium für Einsamkeit schuf.

Eine Kampagne gegen das Stigma

Wenn man heute Bilanz zieht, kann man feststellen, dass Mays Vorgehen nicht bloße Symbolik war. Abgesehen davon, dass Einsamkeit medienwirksam auf die politische Agenda gesetzt wurde, stieß man eine Kampagne an, die das Stigma der Einsamkeit zurückdrängen sollte. „Let´s talk about loneliness“ wurde zur Kampfansage gegen das Schweigen, beworben durch Plakate in Innenstädten und Videos in den sozialen Medien. Das private Problem, für das sich keiner zu schämen brauche, wurde so endlich öffentlich gemacht. Die Botschaft zu vermitteln, dass gegenseitiges Brauchen und Unterstützen selbstverständlich sei, wurde zur gesellschaftlichen Aufgabe, ganz dem Verständnis folgend, dass Einsamkeit ein menschliches Gefühl wie jedes andere ist.

Dementsprechend begann die nationale Statistikbehörde damit, Einsamkeit messbar zu machen. Das Verborgene sollte sichtbar werden. So liegen auch aktuelle Zahlen zur Einsamkeit der Briten während der Corona-Pandemie vor, die erwartbar ernüchternd sind: Im November 2020, zu Beginn der dunklen Jahreszeit, fühlten sich 4,2 Millionen der Inselbewohner „akut einsam“, das heißt oft oder immer einsam. Ist dieser Peak natürlich alles andere als erfreulich, so stellt alleine diese Messung bereits eine Errungenschaft der politischen Arbeit zur Bekämpfung der Einsamkeit in Großbritannien dar.

Rezepte gegen Einsamkeit

Überdies gibt es finanzielle Unterstützung von Projekten zur Stärkung von Gemeinschaftlichkeit. Ob Gemeinschaftsräume, Transport, Mittel für Zuhause oder technische Ausstattung: Der britische Staat hilft tatsächlich, Menschen zusammenzubringen.

Und der Clou: Englische Ärzte dürfen mittlerweile Geselligkeit auf Rezept verschreiben. „Social Prescribing“ nennt sich das übersetzt. Statt Tabletten gibt es beispielsweise einen Kunstkurs. Das staatliche Gesundheitswesen, genannt NHS, nahm hierfür während der Coronakrise 2020 rund fünf Millionen Pfund in die Hand. Viel Geld? Sicher. Allerdings kann auf diese Weise das Gesundheitssystem enorm entlastet werden, wenn insbesondere psychische Beschwerden verhindert oder zumindest gelindert werden können.

Inspiration für Deutschland?

Was Deutschland betrifft, so ist Einsamkeit hierzulande kein geringeres Problem als in Großbritannien. Die Psychologieprofessorin Maike Luhmann an der Ruhr-Universität Bochum schätzte vor Corona, dass 10 bis 15 Prozent aller Deutschen unter Einsamkeit leiden. Das sind zwischen acht und zwölf Millionen Menschen in Deutschland. Also mindestens so viele wie in Österreich leben. Man könnte deshalb meinen, dass längst Zeit sei für ein deutsches Bundesministerium gegen Vereinsamung und Isolation. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der anhaltenden Coronakrise. Doch die föderale Struktur Deutschlands bedeutet, dass zahlreiche Maßnahmen in die Zuständigkeit von Kommunen oder Bundesländern fallen. Am Ende hängt es vom politischen Willen ab, ob und wie Einsamkeit in Zukunft in Deutschland angegangen wird. Vielleicht auch bald mit Rezept.

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