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Wenn Sex sprachlos macht

Von Lilith Diringer / 3. Juni 2020
picture alliance / Westend61 | Westend61 / Achim Sass

Geschlechtsorgane basteln und Kondomführerscheine ausfüllen – seit November 2019 gebe ich Workshops zum Thema Sexualität. An Schulen. Denn steigende Infektionsraten sexuell übertragbarer Krankheiten zeigen, dass es auch unter den ach-so-aufgeklärten Teenagern dieser Generation noch an einem sicheren Umgang hapert.

Bei Waffeln und Sandwiches eine Vagina basteln

„Ich denke, hier müsste noch etwas mehr von dem Material hin“, sagt Elena, die gerade den Karton festhält. „Ja, stimmt – warte.“ Ich beiße noch einmal in mein veganes Sandwich, bevor ich mir ein Stück Knete abzupfe und es ihr reiche. Was wir basteln? Eine Vagina.

Mit Studierenden aller Fachrichtungen bilden wir die Lokalgruppe der Initiative Mit Sicherheit verliebt der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e.V. (bvmd). Wenn wir nicht gerade dabei sind, Materialien vorzubereiten, kommen wir in Schulen zum Einsatz.

„Das klappt sehr gut. Hier ist dein Kondomführerschein!“ Gekicher gibt es auch beim 20. Schüler einer achten Klasse, während er das Kondom über den Holzpenis zieht. Aber nach einigen gemeinsamen Stunden scheinen Scham und Pein zu schmelzen. Bei unseren Schulworkshops merken wir stets, dass die Themen, die wir ansprechen, immer noch tabu sind. Kaum jemand hat sich mit seinen Eltern schon einmal darüber unterhalten, wann diese ihr „erstes Mal“ hatten oder wie oft sie heute noch miteinander schlafen. Doch wer diese Fragen nicht stellt – und auch nirgends beantwortet bekommt –, riskiert nicht nur so manche Geschlechtskrankheit.

Let’s talk about sex – and STIs

„Jetzt mal ehrlich: Wie viele Partnerinnen hast du nach ihrem STI-Status gefragt, bevor du mit ihnen ins Bett gegangen bist?“ Der Geräuschpegel in dem Raum, in dem unser Team alle zwei Wochen zusammensitzt, ist merklich angestiegen. Gerade haben wir gemeinsam den „TED Talk“ von Evelin Dacker über die STAR-Methode angeschaut. Die US-Amerikanerin empfiehlt in ihrem Vortrag, vor dem Sex wichtige Dinge zu klären. Unter anderem empfiehlt sie, wirklich offen darüber zu reden, was einem gefällt und besonders anturnt, aber auch, worauf man sich lieber nicht einlassen möchte. Ein für sie besonders wichtiger Punkt ist die Kommunikation über den STI-Status. STI steht für „sexually transmitted infections“, also: sexuell übertragbare Krankheiten. Damit sind STIs, wie etwa Pilzerkrankungen, Filzläuse oder Gonorrhö, nach wie vor ein großes Problem. Weltweit soll es laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ca. 340 Mio. Neuinfizierte jährlich geben. Wenig verwunderlich, wenn Syphilis dem vorigen Jahrhundert zugeschrieben wird und HIV nur Schwulen.

Reden statt krank werden

Erschreckend ist, dass die Anzahl derer, die von Geschlechtskrankheiten betroffen sind, in Deutschland eher steigt als fällt: Die Zahl der Syphilis-Erkrankten hat sich zwischen 2000 und 2013 sogar mehr als verdoppelt. Wissen über ein angemessenes Schutzverhalten und ein offener Umgang, der eine direkte Therapie sowie die Eindämmung der Übertragung zur Folge hätten, sind somit wichtiger denn je.

Ein Drittel verhütet nicht regelmäßig

Eine Studie, die gemeinsam von Jugend gegen AIDS e.V. und LOVOO, einem sozialen Netzwerk zum gegenseitigen Kennenlernen, 2016 durchgeführt wurde, zeigt Mängel in der sexuellen Aufklärung vieler Jugendlicher auf. Ein Drittel der 2.500 Teilnehmenden mache sich vor und bei dem Geschlechtsverkehr keine Gedanken über sexuell übertragbare Krankheiten. 20 Prozent der Männer nahmen sogar eine potentielle Vaterschaft wissentlich in Kauf. Ein Bewusstsein für Risiken fehle in vielen Fällen. Jeder vierte Befragte gab an, keinen Ansprechpartner für Fragen rund um das Thema Sexualität zu haben.

Es fehlt an Ansprechpartnern

Bei Experten wird selten Rat gesucht. Dies erkannte auch das Universitätsklinikum Bonn, das bereits 2005 auf einem Kongress zu „Sexualität und Identität“ Ärzte und Psychologen zusammenbrachte. „Das Thema Sexualität sollte in der Arzt-Patienten-Beziehung endlich aus der Tabuzone heraus. Denn um dem Betroffenen helfen zu können, müssen Ärzte das meist vielschichtige Problem aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten“, so Professorin Dr. Anke Rohde, Leiterin der Gynäkologischen Psychosomatik an der Universitätsfrauenklinik in Bonn.

Eine 2010 erschienene Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach zur „Gesprächskultur in Deutschland“ zeigt sogar eine Zunahme der Tabuisierung sexueller Themen auf. Selbst Filme wie „Fifty Shades of Grey“ führen nicht zu einer thematischen Öffnung. Das Schweigen in persönlichen Begegnungen ist weiterhin präsent.

Was muss sich ändern?

An einer mangelnden Präsenz von Sexualität in Medien und Öffentlichkeit kann die Sprachlosigkeit indes nicht liegen. Auch an den Schulen ist Sexualität Teil des Lehrplanes. Es scheint also eher um die Art der Vermittlung schlecht bestellt zu sein. Wie kommunizieren wir als Gesellschaft das Thema Sexualität, damit es die Jugendlichen erreicht? Schautafeln und Infobroschüren im Biologieunterricht sind vielleicht nötig, aber nicht hinreichend.

Wir von Mit Sicherheit verliebt wollen mit den Schülern und Schülerinnen ins Gespräch kommen; der Kondomführerschein und die dreidimensionalen Geschlechtsorgane sind dafür nur Impulse. Die Teilnehmenden dürfen Fragen stellen: „Was ich schon immer vom ‚anderen Geschlecht‘ wissen oder an es loswerden wollte“.

Und es gelingt. Sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Lehrkräfte sind durchweg positiv gestimmt. Vielleicht liegt das daran, dass letztere manchmal während der Übungen den Raum verlassen. Außerdem sind wir nicht viel älter als die, an die wir uns wenden, und im Grunde anonym unterwegs.

Ich will aber auch nicht verschweigen, dass unser Engagement nicht unumstritten ist. So wurden nach einem Rektorenwechsel an einer Schule all unsere vereinbarten fünf Klassentermine abgesagt. Das erinnert mich an meine eigene Schulzeit, als uns verboten wurde, anlässlich des Welt-AIDS-Tages am 1. Dezember Kondome auf dem Schulgelände zu verschenken. 

Eine Antwort zu “Wenn Sex sprachlos macht”

  1. Von Andrea am 3. Juni 2020

    Kann eine Verdoppelung der Zahlen Infizierter mit STI nicht unter anderem auch daran liegen, dass in Deutschland seit Anfang der 2000er Prostitution legalisiert wurde und daraufhin sprunghaft angestiegen ist? Leider ist nicht davon auszugehen, dass durch die Legalisierung mehr Hygiene und Kontrolle eingetreten wären wie erhofft (was viele mittlerweile durchgeführte Untersuchungen im „Milieu“ zeigen). Auch werden dank „Selbstaufklärung“ der Jugendlichen im Internet falsche Vorstellungen von Sexualität verbreitet (in Pornos tragen Männer meist kein Kondom, Themen wie Verhütung und die Beziehung der Sexualpartner zueinander werden bei den Rein-Raus-Videos gar nicht thematisiert). Aber dass Jugendliche Pornos anschauen, kommt im Unterricht auch wahrscheinlich eher selten zur Sprache, sodass keine alternativen Diskurse entwickelt werden.
    Außerdem: zur sexuellen Aufklärung gehört auch ein Hinterfragen des gesellschaftlichen Verständnisses für den Umgang der Geschlechter miteinander, und da spielt legale Prostitution meines Erachtens eine verheerende Rolle. Der Sexualakt wird von sonstigen zwischenmenschlichen Verhältnis total abgekoppelt und als konsumierbare Ware vermittelt.

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