„Wir müssen uns selbst unergründlich bleiben“
Ohne Hilfsmittel ist der Mensch in der Natur nicht überlebensfähig – und war es vielleicht nie. Doch sein eigenes Schaffen verändert das Menschsein. Der Anthropologe Dr. Matthias Herrgen sieht darin grundsätzlich keine Gefahr. Anders als im Fall diverser Algorithmen.
Sagwas: Dr. Herrgen, wie verändert Technik uns Menschen?
Matthias Herrgen: Da sind zwei Ebenen zu betrachten. Zum einen: Inwiefern gibt uns die Technik lebensweltliche Diktate vor? Wir leben in einer hochgradig technisierten Welt und wir alle haben das Problem, dass wir der Taktung folgen müssen, die uns die Technik vorgibt.
Zum anderen fällt Technik auf den Menschen selbst zurück, wir werden selbst Gegenstand technischer Eingriffe. Denken Sie beispielsweise an genetische Verfahren oder Cyborgs in Science Fiction-Filmen.
Zum Einfluss von Technik auf die Lebenswelt: Oft erleichtert Technik uns den Alltag, sorgt z.B. dafür, dass wir mehr Zeit haben. Kann man das verallgemeinern?
Im Gegenteil, wir sollten uns vor Verallgemeinerung hüten! Ich glaube, man macht den Fehler – wie auch in ihrer Fragestellung – davon auszugehen, dass die Technik die Art ihrer Nutzung schon mit sich bringe. Es geht aber nicht um die Wirkungsgeschichte der Technik, sondern um die Rezeptionsgeschichte. Darum, wie eine Gesellschaft technische Dinge wahrnimmt.
Also bringt jede Erfindung unterschiedliche Bereiche mit sich und es kommt darauf an, welchen Aspekt man sich aussucht, um zu erfahren, wie es damit weitergeht?
Es gibt dazu ein schönes Begriffspaar. Der Wissenschaftsphilosoph Jürgen Mittelstraß unterscheidet zwei Wissenstypen. Das eine ist Verfügungswissen, darunter fällt beispielsweise technische Kompetenz. Das andere ist Orientierungswissen, also Ethik und soziologische Fragestellungen, wie die Frage, ob wir eine bestimmte Technik überhaupt einsetzen wollen.
Inwiefern lassen sich beide Typen richtig einordnen?
Goethe nannte das Verhältnis zwischen Mensch und Technologie „veloziferisch“. Das ist ein Kunstwort aus „velocitas“ (lat.: Geschwindigkeit) und Luzifer, Satan oder Teufel, also eine teuflische Beschleunigung. Seine These war: Wir haben eine teuflische Beschleunigung in der technischen Entwicklung, aber der Mensch hinkt mit der Frage „Soll ich sie einsetzen?“ immer hinterher.
Wenn wir uns für den Einsatz von Technik entscheiden: Was genau verändert sich dann für uns Menschen?
Es gibt einen Punkt, an dem wirklich etwas qualitativ Neues auf uns zukommen wird: Bis jetzt haben wir noch eine Trennung von Natur und Technik. Ein Szenario der synthetischen Biologie ist es nun, Leben künstlich herzustellen. Also etwas rein Technisches herzustellen, das aber alle Kriterien des Lebendigen aufweisen würde. Ansonsten würde ich bei den technischen Dingen eine Gradualismus-These vertreten. Max Scheler, ein bekannter philosophischer Anthropologe befand, der Unterschied zwischen einem Schimpansen und dem Physiker Edison sei im technischen Sinne lediglich ein gradueller.
Geht von einer solchen Entwicklung tatsächlich eine Gefahr für uns Menschen aus?
Es gibt ein völlig neues Phänomen, das der Selbstquantifizierung. Durch immer mehr Sensoren in unseren Endgeräten ist es möglich, individuelle Informationen über unseren Körper zu erhalten. Wir bekommen unsere Laufleistung angezeigt, unsere GPS-getrackten Kurven und so weiter. Es gibt Apps, die mir vorschlagen, wie viel ich laufen soll. Da kommt etwas Entscheidendes rein: Normativität. Wir geben Teile unserer Lebensgestaltung an Apps ab, die eine völlige Black-Box sind, aber wir gehen abends zufrieden ins Bett, wenn uns ein grüner Balken bestätigt: Du bist heute richtig gelaufen. Ich finde das sehr spannend, weil diese Prozesse uns direkt vorgeben, wie wir als Individuum zu leben haben, aber sie sind völlig intransparent in der Begründung ihrer Normativität.
Inwiefern ist das ein Problem? Es ist doch erstmal gut, wenn die Leute sich mehr bewegen.
Aus anthropologischer Sicht finde ich unfassbar, dass diese App uns im normativen Sinne bewertet! Sonst sind wir Menschen aus gutem Grund ausgesprochen sensibel, wenn uns jemand sagt, was wir zu tun oder zu lassen haben. In dem Bereich sind wir aber offen und unkritisch. Wir trauen diesen Geräten zu, uns zu sagen, wie wir richtig zu leben haben, aber es ist völlig offen, wo das herkommt. Die Technik hat eine Autorität, der viele Menschen glauben – ohne, dass sie auf die Quellen ihrer Autorität verweist. Das ist der Punkt der „Algolatrie“ oder „Algokratie“: Ein Algorithmus herrscht über uns, der sagt, dass wir so und soviel zu laufen haben. Klar, kann ich mich immer auf die Statistik berufen und sagen, im Schnitt wird der Wert schon stimmen. Aber dann müssten wir anerkennen, dass wir alle in eine Statistiknorm hineinpassen. Und das halte ich für unmenschlich.
Wir vertrauen Apps unser Leben an
Aber was macht uns Menschen denn aus? Gibt es etwas, das wir durch Technik weder verändern noch wegnehmen dürfen, wenn wir uns „Mensch“ nennen wollen?
Diese Frage zu beantworten, hieße praktisch die Anthropologie abzuschließen.
Und wenn Sie jetzt vorläufig etwas antworten müssten?
Ich glaube, es hat mit Freiheitsgraden und mit Determinismus zu tun. Um auf das Cyborg-Thema zurückzukommen: Als Cyborgs wären wir wahrscheinlich keine Menschen mehr. Cyborg kommt aus dem Griechischen von „kybernetis“, das bedeutet Steuermann. Die große Angst, die wir haben, ist, dass wir von technischen Entitäten gesteuert werden und nicht mehr autonom sind in unserem Handeln. Menschsein heißt Freiheitsgrade haben. Der Philosoph Helmuth Plessner formuliert das so: Wir brauchen eine Verbindlichkeitserklärung der Unergründlichkeit. Wir müssen immer unergründlich bleiben; wir müssen uns immer selbst ergründen können, weil wir ja unergründlich sind. Sobald mich die Technik also begründen würde, weil mir beispielsweise ein Neurochip vorgibt, was ich zu denken habe, dann wäre ich ergründlich – durch diese Technologie. Damit wäre aus meiner Sicht des Anthropologen der Mensch aufgegeben.
Dann ist die Anthropologie so unergründlich wie der Mensch selbst?
Genau. Anthropologie muss die Frage „Was ist der Mensch“ immer neu stellen. Das haben wir in diesem Gespräch gemacht. Wir haben die Frage nach dem Menschen neu gestellt und zwar unter der Maxime technischer Herausforderungen.