„Zufall bedeutet Kontrollverlust“
Für Anhänger*innen von Verschwörungstheorien gibt es keinen Zufall. Stattdessen würden Eliten die Abläufe in der Welt bestimmen, heißt es. Niklas Vögeding hilft im Umgang mit Verschwörungsgläubigen im sozialen Nahfeld.
Niklas Vögeding arbeitet bei Veritas, einer Beratungsstelle für Betroffene von Verschwörungserzählungen in Berlin. Mit ihm konnten wir über das schwierige Verhältnis von Verschwörungstheorien und Zufallsgeschehen sprechen.
Sagwas: Was halten Menschen, die an Verschwörungserzählungen glauben, vom Zufall?
Niklas Vögeding: Eine verschwörungsideologische Weltdeutung beruht darauf, den Zufall kategorisch auszuschließen. Menschen, die sich ihre Welt durch Verschwörungstheorien erklären, glauben daran, dass der Ablauf der Welt vollständig planbar ist. Sie gehen davon aus, dass in dem Moment, in dem sie keine plausible kausale Erklärung für das haben, was gerade passiert, Mächte im Hintergrund wirken. Wir Menschen können ganz schwer Zufälle aushalten, weil Zufall Kontrollverlust bedeutet.
Solche Momente gibt es im Alltag ja durchaus…
Wenn ich zum Beispiel morgens aus dem Bett stolpere, meinen Kaffee verschütte und dann auch noch die Bahn verpasse, sage ich: „Das ist mein Pechtag“. Aber das ist einfach Zufall, dass das an einem Tag in Folge passiert ist. Kann ich aber keine kausale Erklärung dafür finden, dann glaube ich schnell an irgendetwas Überirdisches.
Inwiefern sind solche Verschwörungstheorien nicht bloß abwegige, harmlose Narrative?
Sämtliche rechtsextremen Terroranschläge der letzten Jahre in Deutschland waren verschwörungsideologisch begründet. Es gab keinen Anschlag, wo der Täter nicht Verschwörungserzählungen anhing. Verschwörungstheorien können also ein Radikalisierungsbeschleuniger sein: Ihr Weltbild beruht auf den Kategorien „gut“ und „böse“. Außerdem öffnet Verschwörungsglaube Tür und Tor für antisemitisches Denken. Die Idee einer Gruppe finsterer, mächtiger Verschwörer im Hintergrund ist historisch gesehen sehr häufig mit Jüdinnen und Juden assoziiert.
Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen sehen sich offenbar gern als Opfer einer mächtigen Elite.
Das macht Verschwörungstheorien besonders gefährlich. Jemand, der sich als Opfer versteht, kann in ihrer Logik kein Täter sein, er leiste ja nur Wiederstand oder Notwehr. Mit diesem Opfer-Mythos legitimieren Verschwörungsgläubige Gewalt. Allerdings werden nicht alle Verschwörungsgläubige gewalttätig.
Welchen Einfluss haben Verschwörungsanhänger*innen auf ihr soziales Umfeld?
Verschwörungsgläubige schaden nicht selten ihrem sozialen Umfeld. Familiäre Bande oder Freundschaften zerbrechen. Es kommt zu Streit. Es kann auch zu Armut wegen Jobverlust oder zu gesundheitlichen Einschränkungen kommen. Aus der Verschwörungsgläubigkeit resultieren dann sehr reale Konflikte.
Umgekehrt kann auch das Umfeld Verschwörungstheoretiker*innen beeinflussen.
Verschwörungsgläubigkeit gedeiht auf gesellschaftlichem Boden. Deshalb ist sie in gesellschaftlichen Krisen, wie der Coronapandemie oder dem Krieg in der Ukraine, besonders präsent. Verschwörungsgläubige kennzeichnet ein massives Misstrauen in fast alles. In den Staat, in Medien, in den Chef. Wer außer den Liebsten in der Familie oder die engsten Freunde könnte da noch einen Funken Vertrauen genießen? Vertrauen aber ist die Grundlage, um Reflexions- oder Änderungsprozesse anzustoßen. Darauf kann das soziale Nahfeld einen erheblichen Einfluss haben.
Verschwörungstheorien können ein Radikalisierungsbeschleuniger sein.
Niklas Vögeding
Wie sollte man sich verhalten, wenn etwa Freund*innen plötzlich an Hirngespinste glauben?
Es ist sinnvoll, sich zunächst selbst Grenzen zu setzen, diese zu kommunizieren und zu wahren. Danach kann man versuchen, die Situation zu deeskalieren. Dabei ist es keine gute Idee, aufbrausend, zynisch oder arrogant zu sein. Auch das Gegenüber für verrückt oder rechtsextrem zu erklären, bringt im privaten Kontakt wenig. Außerdem ist es ab einem bestimmten Ideologisierungsgrad nicht mehr zielführend, mit Fakten zu argumentieren. Das liegt daran, dass Verschwörungserzählungen eine psychologische Funktion erfüllen. Hinter einem Verschwörungsglauben stecken tiefste Überzeugungen. Unserer Erfahrung nach ist es am hilfreichsten, auf emotionaler Ebene ins Gespräch zu kommen und Fragen zu stellen. Über Emotionen kann man nicht streiten. So kann dann erstmal wieder eine Beziehung zur anderen Person aufgebaut werden.
Veritas ist eine Beratungsstelle für Angehörige von Verschwörungsgläubigen. Wie sieht so eine Beratung bei Ihnen aus?
Zuerst machen wir eine Gefährdungseinschätzung. Wir schauen, ob es den Verdacht auf eine Kindeswohl-, Eigen- oder Fremdgefährdung gibt. Dann legen wir ein Beratungsziel fest. Manche wollen einen Kontaktabbruch herbeiführen. Andere wollen die verschwörungsgläubige Person zum Nachdenken anregen oder sich zumindest nicht mehr mit ihr streiten. Wir suchen nach Wegen für Angehörige, den Leidensdruck zu mindern und besser mit der Situation klarzukommen. Denn wenn man total stressbelastet ist, bringt es nichts, ein Gespräch mit Verschwörungsgläubigen zu beginnen. Dann eskaliert es nur.
Geht es dabei also gar nicht um die verschwörungsgläubige Person?
Doch, idealerweise besprechen wir danach die Kommunikationsdynamik zwischen Angehörigen und der verschwörungsgläubigen Person. Erst zuletzt schauen wir uns an, was für einen Nutzen sie aus ihrer Verschwörungsgläubigkeit zieht. In aller Regel werden psychologische Bedürfnisse befriedigt, die wir alle haben. Zum Beispiel Selbstwirksamkeit, Identität oder Kontrollgewinn. Wir überlegen, wie die Angehörigen dazu beitragen können, dass diese Bedürfnisse anderweitig befriedigt und die Verschwörungserzählungen nicht mehr so wichtig werden.
Danke für das Gespräch!