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Zurückbleiben, bitte!

Von Melike Berfê Çınar / 5. November 2021
picture alliance / Bernd von Jutrczenka/dpa | Bernd von Jutrczenka

Wie wenig wir voneinander wissen. Wissen wollen, wissen können? Die Berlinerin Melike Berfê Çınar bewegen diese Fragen heute mehr denn je.

Freund:innen gibt es wie Sand am Meer, potenziell. Und gleichzeitig ist es doch ziemlich selten, dass wir zueinander echte freundschaftliche Beziehungen entwickeln und pflegen. Dann wird das Gegenüber ziemlich einmalig und das birgt dann wieder das Risiko des Verlustes. Wer uns einmalig und bedeutsam scheint, wandelt als drohender Verlust durch unsere Leben. Für beendete Liebesbeziehungen, gebrochene Herzen infolge einer herkömmlich romantischen Geschichte gibt es viele Vorbilder, Narrative, Nachmittagsserien und Mitternachtsserien, Telefonhotlines und empathische Songs. Doch den Schmerz der verlorenen Freundschaft, scheint es, sollen wir alleine verkraften. Die verlorene Nähe, das seltsame Gefühl alles Gewesene betreffend, es könnte sich von Anfang an um eine Unwahrheit gehandelt haben.

Es passiert auf so unterschiedliche Weise: Wir verlieren einander aus den Augen, unsere Perspektiven entwickeln sich so weit auseinander, dass sie unvereinbar werden, gelegentlich knallt es laut oder es ist so still wie ein sterbender Fisch, das Ende.

Hier in Deutschland begegnen wir uns schichtunabhängig nur in der Grundschule. Vielleicht noch im Sportverein, aber auch da besteht ja eine gewisse Sortierung im Vorfeld: Wer wird zum Tennis angemeldet, wer zum Reiten oder Handball? Ball- und Breitensport ist viel günstiger als Ballett oder Hockey, und in welcher Sportart wir uns unsere Kinder vorstellen, oder eben nicht, passiert ja nicht zufällig, sondern entlang der Distinktionslinien, die unseren gesamten Alltag bestimmen.

In meiner Berliner Grundschule sind wir sehr gemischt gewesen. Es war noch nicht ganz so üblich, Meldeadressen zu ändern oder anwaltlichen Zwang auszuüben, um zur gewünschten Einzugsschule zu wechseln. Wir haben uns natürlich auch sortiert in diejenigen, die ein vages Gefühl der Andersartigkeit verspürten, oder in jene, die die neuesten Game Boy-Spiele hatten, aber wir haben uns jeden Tag getroffen und hatten untereinander viel Kontakt.

Worin Kinder und Erwachsene sich ähneln: Wir sind euphorisch in der Anfangsphase von Freundschaften, lernen ständig neue Gemeinsamkeiten kennen und können diese kaum fassen, verbringen Stunden der ungetrübten Zuneigung miteinander. Bis etwas passiert. Etwas, das einen Unterschied deutlich in den Vordergrund stellt und dann stellt sich die spannende Frage, ob wir diesen verhandeln, aushalten können.

Mir hatte als Kind niemand vermittelt, dass Religion etwas ist, das für manche Menschen eine wahrhaftige Bedeutung hat. Ich konnte mir das, ganz ehrlich, gar nicht vorstellen. Ich verfügte nur über rudimentäre Informationen zu verschiedenen Religionen, sie wurden bei uns zu Hause alle mit einem sanften Lächeln versehen. Bis zu einem Abendessen bei meiner Freundin Antonia. Wir verbrachten sehr viel Zeit zusammen, gingen gemeinsam in den Hort und waren warm und eng befreundet. Ihre kleine Schwester und ihre Eltern kannte ich auch, besuchte sie manchmal zu Hause. Irgendwann blieb ich zum ersten Mal zum Abendessen. Und als der Vater vor dem Essen sagte, sie würden jetzt beten, hielt ich das ganz ernsthaft für einen Scherz. Als er mich aufmunternd fragte, ob ich ein Gebet kennen würde, nickte ich und sagte das Gebet des damals sehr aktuellen Komikers Otto Waalkes auf. An der eisigen Stille danach konnte ich schon ahnen, dass ich nicht die richtige Entscheidung getroffen hatte. „Das findet hier niemand lustig“, sagte der Vater schließlich mit Grabesstimme. Ich wollte im Erdboden versinken. Ich hatte mit einem Mal gelernt, dass es Menschen gibt, denen Religion tatsächlich etwas bedeutet.

Dieses singuläre Ereignis tat unserer kindlichen Freundschaft keinen nachhaltigen Abbruch. Wohl aber der Schulwechsel am Ende der Grundschule. Sie ging auf eine Realschule, ich aufs Gymnasium. Es war erstaunlich. Ohne dass uns jemand darauf vorbereitet hätte, hatten wir Bildungszüge bestiegen, die sich unaufhörlich voneinander wegbewegten. Wir gingen jede auf unsere eigene Klassenreise. Ich weit fort von meiner Oma und meiner Mutter ohne Schulabschluss, voller Bewunderung und Zutrauen blieben sie irgendwo am Bahnhof winkend stehen, während mein Vater mir wie an einem weit entfernten Bahnhof wartend erschien, viele Stationen voraus. Antonia fuhr immerhin mit der Mutter gleichauf, Vater und Schwester rasten im D-Zug weit voraus und zeigten ihr gelegentlich lange Nasen.

Was mit der Klassenreise verloren geht, ist die Fähigkeit, auf eine bestimmte Weise miteinander zu sprechen. Ich hatte zunehmend das Gefühl, dass sie mich nicht verstehen konnte, und ich vermute, sie verspürte eine gewisse Abgehobenheit bei mir. Ohne dass ich es je auf unsere formelle Bildung bezogen hätte, entstand eine Distanz zwischen uns, die unsere Freundschaft betäubte und schließlich einschläferte. Und wir hatten nichts aktiv dazu getan, uns nie entschieden, uns im Grunde auch nicht wirklich gestritten oder unvereinbare Positionen bezogen. Es klappte einfach nicht mehr.

Die Klassenreise funktioniert nur in eine Richtung. Einmal von der Bedeutung eines ethischen oder philosophischen Diskurses gepackt und mit all den Ressourcen ausgestattet, die es dafür so braucht, ist es nicht mehr möglich, in einen Zustand zurückzukehren, in dem wir den Diskurs und seine Auswirkungen nicht kennen. Und dass in unser Innerstes hinein, wenn wir ehrlich sind, diese Strukturen wirken und wir nicht mal Freundschaft unabhängig davon fühlen können.

Natürlich meine ich damit keine materielle Sicherheit. Da kann der Richtungswechsel ganz schnell gehen, wenn du nicht über die Aussicht eines zu vererbenden Vermögens verfügst, sondern Jobverlust, chronische Erkrankung oder prekäres Wohnen für dich existenzielle Bedrohungen darstellen. Buchstäblich alles zu verlieren ist möglich und dann gibt es eine materielle Zuordnung zu einer anderen Klasse, aber niemals im Hinblick auf deine Teilhabeerfahrungen an gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten.

Und dafür wünsche ich mir mehr Aufmerksamkeit: Dass es in Deutschland so ist, dass ganz unabhängig von deiner Persönlichkeit deine Bildungschancen im formellen System ganz erheblich von deinen Startbedingungen abhängen. Dass, wenn du aus einer akademischen Familie stammst, das Bahnunternehmen dir quasi gehört und du dir, statistisch gesehen, um deine Bildung keine Sorgen machen musst. Dass es an ein Wunder grenzt, aus der Klasse der Arbeitenden stammend eine Promotion an der Uni zu schreiben. Dabei geht es immer um das gesamte intersektionale Spektrum unserer Identitäten. Darum, dass eben nicht egal ist, woher wir kommen und wo wir gesellschaftlich verortet sind. Dass es einen Unterschied macht, ob du Murat heißt oder Max.

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