Wenn die Angst mitläuft
Frauentaxi und Selbstverteidigungskurse: Nach den letzten öffentlich gewordenen Vergewaltigungsfällen wappnen sich die Frauen auf Freiburgs Straßen gegen die Angst. Ich bin eine von ihnen.
Freiburg, 23:30 Uhr: Ich bin auf dem Heimweg, allein in einer engen Gasse. Plötzlich Schritte hinter mir, ich drehe mich um und sehe eine männliche Gestalt mit Kapuze. Ich beschleunige, versuche meine Fluchtwege auszuloten und greife nach meinem Handy, bereit, einen Notruf loszuschicken…
Dieses mulmige Gefühl, während man alleine auf Freiburgs Straßen unterwegs ist, gehört für einen Großteil der Frauen wieder zum Alltag. Sollte es weibliches Schicksal sein, immer und überall Angst haben zu müssen, Opfer sexueller Gewalttaten zu werden? „Nein“, denke ich, „ich will mich nicht einschränken!“ In einer Gesellschaft, in der Frauen Freiheit einbüßen müssen, weil sie sich nicht mehr ohne Pfefferspray auf die Straße trauen, möchte ich nicht leben. Andererseits habe ich die letzten Vergewaltigungsfälle in meiner Stadt und die Belästigungen von Freundinnen im Kopf und frage mich: „Ist der bewusste Verzicht darauf das Risiko wirklich wert?“
Wehrhaft werden
Seit 2015 studiere ich in Freiburg. Angst, nachts allein nach Hause zugehen, habe ich eigentlich nicht. Aber wirklich sicher fühle ich mich auch nicht. Im Oktober 2016 werden zuerst eine 19-jährige Medizinstudentin in Freiburg und kurz darauf eine Joggerin im nahe gelegenen Endingen vergewaltigt und ermordet aufgefunden. Danach ist erstmal nichts mehr so, wie es war in der scheinbar idyllischen Studentenstadt: Freiburgerinnen und Freiburger sind schockiert und verunsichert – von der Gewalt, die von Männern ausgeht. In diesem Fall von Männern einer anderen Kultur. Frauen trauen sich nachts nicht mehr allein auf die Straße, lautstarke Schlüsselanhänger, sogenannte Taschenalarme sind ausverkauft und die Nachfrage nach Frauentaxis steigt erheblich.
Auch unter Freiburger Studierenden sind die Gewalttaten ein alltagsbestimmendes Thema. Es wird viel geredet über sexualisierte Gewalt – öffentlich und privat im Freundeskreis. Nicht ohne Folgen: Studentinnen machen reihenweise Selbstverteidigungskurse, besorgen sich Sprays und gründen WhatsApp-Gruppen, um sicherzustellen, dass nach der Party alle sicher nach Hause gekommen sind. Aber auch männliche Freunde sind davon betroffen. Sie sehen sich für ihre Freundinnen mehr denn je in der „Beschützerpflicht“. Dabei scheint es, als kämpften wir an zwei Fronten: einerseits gegen die Angst vor nächtlicher Gewalt und andererseits gegen die rechte Hetze, die das Geschehene für ihre Zwecke zu instrumentalisieren versucht und ein freies Freiburg bedroht.
Freiburg heute
Freiburg 2018. Anfang Oktober diesen Jahres wird eine 18-Jährige nahe des Hans-Bunte-Areals, einem beliebten Club für Techno-Partys, von mehreren Männern vergewaltigt. Bereits in den Monaten davor gab es eine Vergewaltigung und andere bekannt gewordene Gewaltstraftaten gegen Frauen. Das sorgt, wie schon vor zwei Jahren, selbst überregional für Schlagzeilen und aufgeheizte Diskussionen. Auch wenn die Angst diesmal weniger heftig einschlägt, ist da doch dieses bittere Gefühl des Rückschlags. Nicht nur bei mir. Wenn ich mich in meinem Freundeskreis umhöre, ist Wut spürbar: über die erneute Gewalt, über das mediale Aufbauschen eines Problems, das es schon lange gibt, aber erst durch Medienberichte Gehör zu finden scheint, und über die daraus resultierenden weiteren Einschränkungen für Frauen.
Der Kampf gegen die Angst
Doch Freiburg verharrt nicht in Angst. Bereits nach dem Gewaltverbrechen an der Medizinstudentin Maria L. 2016 war das Polizeiaufgebot verstärkt worden und Ende November diesen Jahres sind es ebenfalls groß angelegte Polizeikontrollen, die das allgemeine Sicherheitsgefühl erhöhen sollen. Seit Kurzem bemühen sich Stadtverwaltung und Polizeipräsidium zusätzlich um einen direkten Dialog: In sogenannten stadtteilspezifischen „Sicherheitskonferenzen“ sollen Bürgerinnen und Bürger ihre Fragen und Sorgen zum Thema Sicherheit äußern können.
Aber: Brauchen wir nicht konkretere Angebote, die Frauen die Möglichkeit geben, ihre Sicherheit selbst in die Hand zu nehmen? Seit 2016 gibt es dafür beispielsweise die „Kommgutheim-App“, durch die Freundinnen und Freunde den GPS-Standort der Nutzerin direkt nachverfolgen können. Mit der App „Wayguard“ können sich Frauen außerdem durch Angestellte eines Callcenters telefonisch begleiten lassen. Die Beratungsstelle Frauenhorizonte hat zudem die „Luisa“-Aktion in Freiburger Clubs etabliert, bei der sich Frauen mit dem Satz „Ist Luisa hier?“ beim Personal melden können, wenn sie sich unwohl fühlen. Ein nächtliches Frauentaxi existiert zwar auch, aber es funktioniert noch nicht als Ruftaxi, sondern fährt lediglich von einem einzigen Standort in der Stadt ab.
Wie weiter?
Die Freiheit mich zu bewegen, wann und wo immer ich will, ist ein grundlegendes Recht, das mir nicht nur tagsüber zusteht. Und die Angst vor (männlicher) Gewalt ist kein spezifisches „Freiburgproblem“ sowie erst recht kein Frauenproblem oder nur Zugezogenen anzulasten, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem, das alle etwas angeht. Die Vorstellung, dass vor allem wir Frauen uns einschränken müssen, indem wir uns anders kleiden oder früher nach Hause gehen, um uns nicht „wehrlos“ zu machen, ist nicht nur falsch, sondern auch in höchstem Maße unangebracht. Anstatt zu hetzen und zu verallgemeinern, sollte erst einmal diskutiert werden, warum so viel sexualisierte Gewalt gegen Frauen überhaupt vorkommt.
Dazu muss man aber zunächst das vorherrschende Frauenbild und die Beziehung zwischen Männern und Frauen hier bei uns ehrlich hinterfragen. Am besten schon frühzeitig durch Aufklärungsarbeit in der Schule und durch eine offene Diskussion des Themas, die alle Gesellschaftsschichten durchdringt. Denn Gewalt kommt in jeder Gesellschaft vor. Wenn wir davor unsere Augen verschließen, müssen meine weiterhin wachsam sein, wenn die Angst wieder mitläuft.