ProWer heute spielt, ist morgen besser
Musikalisches Talent mit Programmen wie JeKits zu fördern, schadet weder dem Einzelnen noch der Gesellschaft. Zumal Musik auch als Teil der Naturwissenschaften betrachtet werden kann, wie bereits Pythagoras wusste.
Jeder Musikfan hat ihn erlebt: diesen einen Moment, als Musik ihn zum ersten Mal in den Bann zog. Für mich kam er mit elf Jahren, als meine Eltern mir die Videospielserie Guitar Hero samt Plastikinstrument kauften, und ich zum ersten Mal Songs wie “B.Y.O.B.” von System of a Down oder “Santeria” von Sublime spielte. Dank gutbürgerlichem und künstlerisch geneigtem Elternhaus durfte ich wenig später meine ersten Gitarrenstunden nehmen und tauchte so nach und nach immer tiefer in diese neue Welt ein. Erst Rock und Metal, später Blues und letztendlich auch Jazz, Elektronik und Klassik.
Allerdings haben viele junge Menschen nicht einmal annähernd dieselben Möglichkeiten, wie ich sie hatte. Es war nicht der schulische Musikunterricht, der meine Liebe zur Musik befördert hat. Und wie sollte er dies auch, bei maximal anderthalb Schulstunden pro Woche, von denen mindestens die Hälfte für Musiktheorie von Bedrich Smetana bis Arnold Schönberg reserviert ist? Ich plädiere deshalb dafür, dass jedem Kind ermöglicht wird, in der Grundschule ein Instrument zu erlernen.
Wer ein Instrument spielt, der musiziert nicht nur
Das deutsche Schul- und Vereinsleben decke doch alles Wesentliche ab, was einem Kind mitgegeben und angeboten werden sollte – akademische Förderung, Sprachunterricht, Sport –, argumentieren einige. Die musische Entfaltung bleibt jedoch oft auf der Strecke. Das Erlernen eines Instruments überbrückt diesen Missstand, indem es den Schüler von Beginn an in den künstlerischen Prozess einbindet und ihm so nichts weniger als den bestmöglichen Zugang zur vielfältigen Welt der Musik bietet.
Viele der Vorteile des Musizierens sind allgemein bekannt: bessere motorische Fähigkeiten, Entwicklung von Rhythmusgefühl, ein geschärftes Aufmerksamkeitsvermögen. Selbst Akademiker hätten Grund zum Frohlocken, denn Musizieren fördert sogar mathematische Fertigkeiten, da beide Bereiche eng miteinander verknüpft sind. Pythagoras, dem zahlreiche mathematisch-geometrische Erkenntnisse zugerechnet werden, gilt als einer der wichtigsten Musiktheoretiker aller Zeiten. Er entdeckte, dass die Intervalle innerhalb einer Tonleiter mathematisch eingeordnet werden können und auch jeder Ton an sich durch seine Schwingungsfrequenz in Zahlen ausgedrückt werden kann.
Näher betrachtet, gibt es also wohl kaum eine andere Aktivität, die umfassender als Unterrichts-, Lehr- und auch Therapiemethode einsetzbar ist als das Musizieren.
Alle Kinder sind gleich, doch manche sind gleicher
Instrumentenspiel sollte deshalb Teil des schulischen Lehrplans werden. Denn außerhalb des Elternhauses gibt es momentan nur zwei Orte, an denen das Musizieren erlernt werden kann: Musikschulen einerseits und zum anderen eine Arbeitsgemeinschaft in der Schule. Während letztere Option stark abhängig vom Lehrpersonal und als freiwilliges Zusatzangebot stets prekär ist, hängt die erste vor allem vom heimischen Geldbeutel ab. Schulisch gefördertes Musizieren würde dagegen alle Kinder in Kontakt mit selbstgemachter Musik bringen und damit Chancengerechtigkeit schaffen – ohne großen Kostenaufwand für den einzelnen Schüler und ohne, dass dieser dafür länger in der Schule bleiben muss.
Dabei zielt derartiger Gitarren- oder Geigenunterricht nicht darauf ab, aus jedem Schüler einen passionierten Musiker auf Lebenszeit zu machen. Vielmehr geht es darum, dass jedes Kind wenigstens einmal im Leben die Gelegenheit hat, sich eine Weile an einem Instrument zu probieren. Und falls es den ein oder anderen Jungmusiker dabei beflügelt, umso besser!
MINT ist nicht alles
Zwar könnte man argumentieren, dass ähnliche Gleichstellungserfolge auch mit verstärkter wissenschaftlicher Förderung zu erzielen sind. Mehr Steckkasten statt Streichinstrument und mehr „Jugend forscht“ statt „Jugend musiziert“. Aus nationalstaatlicher, ökonomischer Sicht ein nachvollziehbarer Absatz.
Dass Deutschland nach wie vor in den Naturwissenschaften zur Weltspitze zählt, bestreitet niemand, und dazu trägt nicht zuletzt unsere starke Jugendförderung bei. Aber Deutschland ist noch viel mehr als das, was die MINT-Fächer darstellen: Es ist das Land der Dichter und Denker, Kunst- und Kulturnation. In musikalischer Hinsicht nicht nur Kaderschmiede der Klassik, sondern auch europäische Jazzhochburg. Leider spiegelt sich dieses Erbe kaum in der Schülerschaft von heute wider: Vergleichsweise wenige wissen mit einer Tonleiter etwas anzufangen, geschweige denn eine Strophe korrekt vom Blatt zu singen oder zu spielen.
Mein Appell endet darum nicht bei der Musik. Er bezieht genauso Singen und Tanz, Malerei oder auch das literarische Schreiben mit ein. Nicht umsonst wandelte Nordrhein-Westfalen vor ein paar Jahren sein landesweites Programm „Jedem Kind ein Instrument” (JeKi) in der Nachfolgeversion erfolgreich in „Jedem Kind Instrumente, Tanzen, Singen” (JeKits) um. Unsere große gesellschaftliche Stärke liegt in der Vielfalt. Nur wenn wir diese Vielfalt nutzen und fördern, können wir getrost sein, dass unsere Nachkommen aus den reichen Quellen unserer Kultur schöpfen können.
Ergänzend zum PRO-Kommentar der MUSIK-Debatte gibt es wieder eine exklusive Umfrage:
Hallo Alex,
Nur eine halbe Stunde zusammen singen jeder Tag, würde eine grosse Differenz machen.
Happy New year!
Helen
Hi Helene,
Es gibt ohne Frage viele Wege etwas beizutragen, von denen gemeinsames Singen sicherlich nicht der schlechteste ist!
Liebe Grüße und ein frohes neues Jahr!
Alex