Zwischen mir
Wie wenig wir voneinander wissen. Wissen wollen, wissen können? Die Berlinerin Melike Berfê Çınar bewegen diese Fragen heute mehr denn je.
Ich bin in einem Land aufgewachsen, in dem der doppelte Völkermord, in dem grausamste Raserei, in dem Vernichtung, Hass, Verachtung und Einfaltsverehrung zum Zeitpunkt meiner Geburt fliegenschisshafte 38 Jahre zuvor für beendet erklärt worden waren.
Ich bin in einem Land aufgewachsen, in dem meine weiß-deutsche Mutter aus der Arbeiterklasse sich geschämt hat, bei ihrer Verabredung mit einem Türken von Kolleg:innen gesehen worden zu sein.
Ich bin in einem Land aufgewachsen, in dem elf Jahre nach meiner Geburt der Paragraf 175 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wurde. Nachdem er es sich in Nazi-Deutschland so richtig gemütlich gemacht hatte und immer fetter wurde. Dass nicht alle Menschen wissen, welcher Paragraf das überhaupt ist, ist in dem Land, in dem ich aufgewachsen bin, ganz normal.
Und dass viele Menschen nicht wissen, wer Semra Ertan war, ist hier ganz normal. Dass viele nicht wissen, wer Mustafa Demiral war, auch. Oder Cemal Kemal Altun. Oder Celalettin Kesim. Wir wissen es, wir vergessen nicht. Können wir nicht. Dürfen wir nicht1.
Dass Männer of Color in dem Land, in dem ich aufgewachsen bin, für viele als Gefahr gelten, ist auch normal. Mein Vater wurde vor meiner Geburt in Köln am Bahnhof mal von Männern beschimpft und verfolgt, und es kann gut sein, dass die türkische Zeitung in seinen Händen, die zunächst und endgültig verriet, wer er war, ihm dann das Leben rettete. Weil am Gleis gegenüber junge türkeistämmige Männer auf die Situation aufmerksam wurden und an der türkischen Zeitung erkannten, was Sache war. Und ihn retteten, durch Präsenz, durch laut sein, durch Solidarität und Schutz. Wir haben in den 1990ern nicht gelernt, Angst vor solchen Gruppen zu haben, sondern sie als das zu sehen, was sie waren: Der Spiegel für die Mehrheit. Es waren die 36-Boys, die in Kreuzberg für Sicherheit gesorgt haben, die Antifaşist Gençlik war es, die die Straßen um den Moritzplatz sicherte, niemand anders. Jedenfalls für mich.
Ich bin mit einer deutschen Großmutter in Berlin aufgewachsen, die mir sagte: „Und wenn sie dir erzählen, sie hätten das alles nicht gewusst, glaub ihnen nicht! Alle haben alles gewusst.“ Und die mir ohne Unterlass aus ihrem Leben erzählte: Von Krieg und Bomben und Angst und Verbrechen und verschwundenen Nachbar:innen und Massenmord. Von brennenden Häusern und russischen Soldaten, die den Kindern Butter und Schokolade gaben. Aber nicht den rothaarigen. Und von toten Kindern wie ihren Söhnen, den Brüdern meiner Mutter, von denen einer an der Ruhr starb im Krieg, er wurde drei Jahre alt, und der andere kurz nach seiner Geburt infolge eines Stromausfalls im Krankenhaus erfroren war.
Ich bin in einem Land aufgewachsen, in dem eine deutsche Frau die Kreuzberger Kita-Gruppe, zu der ich gehörte, mit den Worten kommentierte: „Na, wo haben die denn dit blonde Mädchen jeklaut?“ und mich meinte. In dem ich den Schock in den Augen der Menschen sehen konnte, die meinen Vornamen so schön und besonders fanden und die so gern wollten, dass er niederländisch sei, wenn sie erfuhren, dass er türkisch ist.
Ich bin in einem Land aufgewachsen, das mich zur Verräterin gemacht hat. Als der Mann mit dem Hund, der neben unserer Schule wohnte, zum Spielplatz kam und sagte „Mein Hund hasst P[abwertende Bezeichnung für aus Polen stammende Menschen]. Er greift alle an, das habe ich ihm beigebracht,“ da habe ich Lidia angesehen, der vor Angst die Tränen in den Augen standen, und gedacht: Zum Glück sind wir Türken, keine Polen. Ich wusste nicht, dass er mich nur nicht als türkisch identifiziert hatte und die weißblonde Lidia vermutlich hatte polnisch sprechen hören. Noch heute dreht sich mir der Magen um, wenn ich daran denke. Wir waren in der zweiten Klasse. Unser Sicherheitsgefühl hatte längst zu wanken begonnen, bald brannte es lichterloh und es brannte aus, zu einem Häufchen Asche. Mit der Asche schrieben andere „Wir sind das Volk“ in die Geschichte und wärmten sich an brennenden Kindern.
Als ich elf Jahre alt war, schnitt ich das Label „Qualität aus Solingen“ vom Etui des Necessaires meines Vaters eigenmächtig ab. Ich konnte nicht glauben, dass „Solingen“ für irgendetwas anderes stehen könnte als für Schock, Ohnmacht, Trauer, Angst, Tod und unendlichen Schmerz.
Irgendwann begannen diese Träume, die ich als Kind hatte. In denen mein Vater abgeholt wurde von Männern in Stiefeln. In denen meine Mutter und ich wegliefen, uns versteckten. Und wenn ich aufwachte, den Horror noch in den Knochen, dachte ich daran, was dieses Land mir beigebracht hatte: Zum Glück habe ich blaue Augen. Zum Glück bin ich blond. Verwirrend aber: Auch mein Vater hat helle Augen, relativ helles Haar, helle Haut. Ich schäme mich für diese rassenkundlichen Ausflüge, aber ich schäme mich vor allem für euch, für eure Strukturen, für das, was ihr mich habt glauben lassen.
Als Kind bin ich permanent aufgefordert worden, „doch mal was auf Türkisch“ zu sagen. Parallel zu „die sollen Deutsch lernen“ und Sprachgeboten auf Schulhöfen.
Ich bin in einem Land aufgewachsen, in dem ich ohne Unterlass zu hören kriege: „Du siehst ja gar nicht türkisch aus!“ und das als Kompliment, ja Auszeichnung gemeint ist.
Ich lebe in einem Land, das Alternativen zur bunten, pluralen Gesellschaft sucht und findet und mir auch noch sagt, ich solle mich daran gewöhnen.
Ich lebe in einem Land, in dem die Menschen sagen: „Ach, da hast du sicher keinen Kontakt zu deinem Vater, so als queere Person, was?“ Das ist auch das Land, in dem Gewalttaten gegen queere Menschen an der Tagesordnung sind. In dem Menschen beschimpft, bespuckt, verprügelt werden, weil sie vermeintlich anders leben und lieben. Und hinter den Taten und den Täter:innen sieht ihr Schatten verdammt nach einer 175 aus.
Ich lebe in einem Land, in dem für viele Rostock nur der Name einer Stadt ist. Oder Mölln. Oder Güstrow. Oder Hanau. Wo liegt das nochmal? In Hessen, oder? Diese Städte liegen tief in unserem Gedächtnis, in den Landkarten unserer Seelen, in unseren Herzen. Sie bedeuten Angst und Wut, Fassungslosigkeit und Schmerz, Alptraum und Realität.
Und deswegen sortiere ich Auslagen in Buchläden einfach um: Ich lege Alice Hasters auf den Sarrazin-Stapel. Deswegen bin ich niemals mehr still, wenn einer anderen Person Abwertung, Hass und Ausgrenzung aufgrund ihrer Identität entgegenschlagen: Ich habe mir fest vorgenommen, immer etwas zu sagen, etwas zu tun. Und das Gleiche erwarte ich von euch, der Mehrheit, dass auch ihr das Schweigen brecht, aus dem Kompliz:innentum heraustretet und euch den kalten Wind um die eigene Nase wehen lasst. Und dass ihr solidarisch seid und zuhören und anerkennen lernt. Und euch auseinandersetzt mit euch selbst, mit uns, damit, wie wir hier eigentlich leben wollen und wie das alles hier morgen aussehen soll.
1Ich danke der Initiative #saytheirnames und hoffe inständig, dass die Namen der neun bei den rassistischen Anschlägen in Hanau Getöteten in die kollektive Erinnerung dieses Landes eingehen werden. Ferhat Unvar. Gökhan Gültekin. Hamza Kurtović. Said Nessar Hashemi. Mercedes Kierpacz. Sedat Gürbüz. Kaloyan Velkov. Fatih Saraçoğlu. Vili Viorel Păun.
Sprichst vielen aus der Seele
Danke
Nur ein Wort: SUPER!!!
Es werden sich viele mit türkischem Migrationshintergrund in deinem Text wiederfinden. Insbesondere an dieser Stelle bin ich 100% bei dir „Deswegen bin ich niemals mehr still, wenn einer anderen Person Abwertung, Hass und Ausgrenzung aufgrund ihrer Identität entgegenschlagen: Ich habe mir fest vorgenommen, immer etwas zu sagen, etwas zu tun.“
Die Schweigespirale muss aufhören!
Danke dir für deinen tollen Beitrag!