Wie viel Demokratie darf’s denn sein?
Auf der Suche nach dem effektivsten Demokratiemaß schlagen viele Länder unterschiedlichste Wege ein. Doch welches politische System ist überhaupt berechtigt, sich „demokratisch“ zu nennen?
Es klingt vielleicht absurd, aber nahezu jedes Land behauptet, eine Demokratie darzustellen. Oftmals lassen sich entsprechende Strukturen und Grundprinzipien in den jeweiligen Verfassungen fest verankert finden, wie das zum Beispiel in Kanada in Form der „demokratischen Rechte der Bürger*innen“ der Fall ist.
Ironischerweise sind es meist ausgerechnet die Länder mit dem Wort „demokratisch“ im Staatsnamen, die diese Prinzipien am wenigsten einhalten. Von mehr als Lippenbekenntnissen kann bei der „Demokratischen Republik Kongo“ und der „Demokratischen Volksrepublik Korea“ kaum die Rede sein – und nicht zuletzt bezeichnete sich auch die DDR selbstbewusst als „Deutsche Demokratische Republik“. Aller Repressionen und Stasi-Aktionen zum Trotz.
Doch auch unter den Staaten, die die demokratische Geisteshaltung nicht (nur) im Namen tragen, ist Demokratie nicht gleich Demokratie. Kaum der Rede wert zu sein scheint, wie sicher demokratische Errungenschaften vor ihren möglichen Feinden sind. Oder wissen wir, die wir uns für verlässliche Staatsbürger*innen halten, auf Anhieb, wie und wodurch sich Verfassung, Institutionen und Strukturen in unserem Land schützen lassen?
Eine Frage der (totalen) Toleranz
Wegweisend in dieser Frage ist das sogenannte „Toleranz-Paradoxon“ des österreichisch-britischen Philosophen Karl Popper, welches er erstmals 1945 als Teil seines Werks „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ formulierte.
Eine Demokratie lebt bekanntlich von der Toleranz gegenüber verschiedenen politischen Auffassungen. Nur gibt es darunter auch solche, die sich scharf gegen eben jene demokratische Grundordnung wenden, wie den Faschismus oder Kommunismus. Poppers Toleranz-Paradoxon besagt, dass eine Demokratie, die zu tolerant gegenüber ihren politischen Gegnern ist, letztendlich fürchten muss, von eben diesen zu Fall gebracht zu werden. Totale Toleranz führe zum Ende der Toleranz. Paradebeispiel für Poppers These ist die Weimarer Republik, deren Untergang gleichbedeutend mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten ist.
Der einzige Weg, um dieses beschriebene Schreckensszenario zu verhindern, liegt Popper zufolge darin, die Demokratie zu Gunsten ihrer eigenen Stabilität ein Stück weit weniger demokratisch zu gestalten – was uns zurück zum Dilemma mit der Verfassung bringt. In eben jenem Punkt aber könnten die der Demokratie zugeneigten Denkschulen nicht weiter voneinander entfernt sein. Denn was verfassungsrechtlich für ein Land gerade noch auszuhalten ist, erweist sich für ein anderes schon als staatszersetzend.
Ein solcher Gradmesser sind etwa Parteiverbote. In Deutschland sind laut Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) Parteien verfassungswidrig, die darauf ausgerichtet sind, „die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen“. In der Geschichte der BRD wurden zwei Parteienverbote ausgesprochen: 1952 gegen die Sozialistische Reichspartei (SRP) als Nachfolgeorganisation der NSDAP sowie 1956 gegen die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Ähnliche Verbote gab es in der Schweiz und Österreich, wobei in letzterem die KPÖ heute noch einen festen Teil der politischen Landschaft darstellt.
Mit diesen eher rabiaten Mitteln der Demokratieverteidigung stehen die deutschsprachigen Länder allerdings beinahe allein auf weiter Flur. In den USA können heutzutage sowohl die Communist Party USA (CPUSA) als auch die American Nazi Partei (mittlerweile als New Order bekannt) weitestgehend ungestört ihren Ideologien nachgehen. Eigentlich kein Wunder, existieren doch auch Organisationen wie der menschenverachtende Ku-Klux-Klan (KKK) seit dem 19. Jahrhundert bis heute. Verwunderlich ist eher, dass trotz dieser antidemokratischen Bewegungen das US-amerikanische Staatssystem seit fast zweieinhalb Jahrhunderten unbeirrt weiterbesteht. Wie schützt man die Demokratie also richtig?
Was am Ende zählt
Deutschlands Ansatz etwa ist zum einen historisch zu begründen. Gleichzeitig war das Verbot der KPD opportunistisch, um eine organisierte kommunistische Bewegung und einen im Parteiprogramm propagierten „revolutionären Sturz des Regimes Adenauer“ im Keim zu ersticken. Ideologisch gleichgesinnte Kleinparteien wie die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) werden aufgrund fehlender Mittel zur Verwirklichung ihrer Ideen dagegen auch hierzulande geduldet.
Partei- und Organisationsverbote drängen die dahinter stehenden Bewegungen oft lediglich in den Untergrund, statt sie auszumerzen, und können sogar zu weniger Kontrolle über die Gruppierungen führen. Wichtiger scheinen die gelebte demokratische Kultur des Landes sowie die Widerstandsfähigkeit der Verfassung und Unabhängigkeit der Gerichte. Je länger ein Land demokratisch agiert, desto schwieriger wird es für Randgruppen, mit ihrer Ablehnung des Systems Zuspruch zu finden. Und je schwieriger es ist, eine gut zwischen verschiedenen Interessengruppen austarierte gemeinschaftliche Grundordnung zu ändern, desto weniger Spielraum erhalten politische Querdenkende, beim Machtgewinn in kurzer Zeit viel Schaden anzurichten. So sind in vielen Ländern für Verfassungsänderungen statt einfacher Mehrheiten 2/3 oder 3/4 der Abgeordneten nötig, um solch grundlegende Einschnitte in geltendes Recht mit entsprechend breiter Zustimmung der Wähler*innen legitimieren zu können.
Fakt ist: Es gibt kein Allheilmittel gegen Demokratieschwund, aber mit einer vielfältigen Parteienlandschaft und einer schockresistenten Verfassung ist schon viel getan, um die Halbwertszeit der Demokratie entsprechend lang zu gestalten. Und bis diese abgelaufen ist, gibt es hoffentlich entsprechende Ansätze, um das System aus seiner nächsten Krise zu retten.