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Eine emotionale Achterbahnfahrt: Vater werden

Von Aloys Osewold / 29. März 2023
picture alliance / Westend61 | Stefan Rupp

Wie es ist, als Mann bei einer Geburt dabei zu sein, interessiert vielleicht weniger. Eine absolute Ausnahmesituation erleben aber auch wir, die wir nicht gebären.

Es gibt Erlebnisse, die sind so existenziell, lebensverändernd und aufwühlend, dass man diese niemals im Leben vergessen wird. Bei mir ist das die Geburt unseres ersten Kindes.

Die Schwangerschaft verlief ohne größere Komplikationen und eines Abends meinte meine Frau, dass es am nächsten Tag soweit sein könnte. Dennoch bin ich wie gewohnt zur Arbeit. Genauer gesagt, hat meine Frau mich weggeschickt und versprochen, anzurufen, wenn was sein sollte. Der Anruf kam dann tatsächlich während der Frühstückspause: Es ist soweit! Es folgte eine eilige Übergabe an den Teamleiter und als ich meinem Chef Bescheid gab, legte mir dieser beruhigend eine Hand auf die Schulter: Immer schön ruhig bleiben!

Ob es an dem Ratschlag lag? Für den Heimweg brauchte ich fünfzehn Minuten länger als sonst. Als ich zuhause ankam, erwartete mich meine kontrolliert-nervöse Frau mit dem Hinweis, dass sie noch duschen müsse und ich schonmal alles ins Auto packen, aber nicht ohne sie losfahren solle. Humor ist, wenn man lacht.

Den Geburtsort hatte meine Frau ausgesucht. Zum einen, weil sie dort eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester gemacht und weil das weniger weit entfernte Krankenhaus nicht den besten Ruf hatte. Das medizinische Personal, das uns über den Weg lief, wurde kommentiert und bewertet. Unvergesslich dieser Satz: „Die Hebamme kenne ich, die ist schrecklich, die will ich nicht. Wenn ich die bekomme, presse ich die Beine so lange zusammen, bis eine andere kommt!“

Da lag unser Kind, ohne sich zu bewegen

Auf Station durfte meine Frau sich hinlegen und bekam einen Wehenschreiber angelegt, ich setzte mich dazu und beschäftigte mich mit meinem Handy, weil sie ihre Ruhe haben wollte. Der Wehenschreiber zeigte die Herzfrequenz unseres Kindes, die plötzlich von 155 auf 70 Hertz fiel und schließlich gar nichts mehr anzeigte. Meine Frau hatte ein schlechtes Gefühl und schickte mich, um jemanden zu holen. Die Ärztin, die kam, warf einen Blick auf das Gerät und innerhalb von Sekunden war der Raum voller Menschen. Ich sah, dass sie einen Venenzugang legte, ein anderer Arzt eine Flüssigkeit aus einer Ampulle in eine Spritze zog, dazu noch Hebammen und Pflegekräfte, die um meine Frau herumwuselten und knappe Ansagen und Befehle im typischen Deutsch-englisch-latein-Krankenhaussprech entgegennahmen.

Eine Erklärung, was da vor sich ging, bekamen in dieser hektischen Situation weder ich noch meine Frau. Ich erinnere mich, dass ich perplex versuchte, niemandem im Weg zu stehen. Als ich auf meine Frau sah, durchfuhr mich wie ein Blitz der Gedanke: „Verdammt nochmal, Mann, reiß dich zusammen! Das ist deine Frau, die da liegt! Ihr geht’s gerade deutlich schlimmer als dir! Sieh zu, dass du zumindest ihre Hand hältst und sie nicht alleine lässt!“

Als sich die erste Aufregung und Eile gelegt hatten, wurden wir informiert: Das Kind liege zwar richtig, aber es gäbe Komplikationen; welche, das sei noch unklar. Indessen hatten sich die Ärzte für einen Notkaiserschnitt entschieden. Und dann, es ging alles sehr schnell, lag meine Frau auf dem OP-Tisch, mit Kanülen in den seitlich ausgestreckten Armen. Da hörte ich den Arzt bis drei zählen und wie er einen Ausruf der Überraschung von sich gab. Die Hebamme hatte erklärt, dass wir unser Kind nach der Geburt kurz sehen könnten, bevor es zur Erstuntersuchung in einen Nebenraum gebracht würde.

Und so war es. In den Armen der Hebamme lag unser Kind. Ohne sich zu bewegen. Ohne einen Ton von sich zu geben. Kalkweiß. Und voller Blut.

Die Hebamme fragte, ob ich unser Kind sehen wolle

Die Zeit, die folgte, war unerträglich. Ja, ich weiß, dass die moderne Schulmedizin einiges zu bewerkstelligen vermag. Aber ich wusste zu diesem Zeitpunkt auch, dass es Grenzen gibt und eben manchmal jede Hilfe zu spät kommt. Mehrmals hatte ich vergeblich nach dem Zustand unseres Kindes gefragt; dabei hätte es mir schon gereicht zu wissen, ob es lebt, tot ist oder um sein Leben kämpft. Aber all das wusste das OP-Team selbst nicht. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam die Hebamme und fragte erneut, ob ich unser Kind sehen wolle. Bis heute verstehe ich den Sinn dieser Frage nicht. Sie führte mich in den Nebenraum und dort lag es in einem Wärmebettchen. Mit Zugang am Kopf, Schläuchen in Mund und Nase und einer Atemmaske vor dem winzigen Gesicht.

Die Kinderärztin erzählte noch was von 2.490 Gramm, 48 Zentimeter Körpergröße und dem allgemeinen Gesundheitszustand. Ich hörte zwar, was sie sagte, verstand es aber kaum. Dafür reichte in diesem Moment meine Aufmerksamkeit nicht. In mir brachen alle Dämme, die Anspannung löste sich in einer Sturzflut aus Tränen. Meine Frau war noch im OP-Saal und wurde genäht, da durfte ich nicht hin. Also setzte ich mich in den Vorraum der Station, mit einem Glas Wasser in der Hand und allein mit meinem Gefühlschaos.

Nach ungefähr 20 Minuten durfte ich zu meiner Frau. Ich habe sie umarmt, rief: Er lebt! Sie war von der OP etwas verwirrt und verstand noch nicht, was überhaupt geschehen war. Erst am nächsten Tag erfuhren wir, dass unser Sohn sich die Nabelschnur drei Mal um den Hals gewickelt und bei dem Versuch einer spontanen Geburt sich auch die Plazenta zum Teil gelöst hatte.

Luca musste noch zwei Wochen auf der Frühchenintensivstation bleiben. Eine Zeit, die ich nie vergessen werde und die mir geholfen hat, mich als Vater zu fühlen.

P.S.: Der Junge hat vor kurzem seinen sechsen Geburtstag gefeiert und das Seepferdchen-Schwimmabzeichen geschafft. Und wir sind einfach nur unheimlich dankbar und stolz.

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