Deutsche Debattenkultur – ein Drama in… zu vielen Akten
Auf Social Media wird aus einem meinungsstarken Schlagabtausch ein Streit, nicht selten wird es persönlich. Bei „Reizthemen“ wie Geschlechtsidentität oder Diversität werden die Debatten besonders heftig geführt. Aber warum eigentlich?
Wie steht es um die Streitkultur in Deutschland? Kann überhaupt von „Kultur“ die Rede sein angesichts zahlreicher öffentlicher Kommentare unter die Gürtellinie? Von einem Land der Dichter*innen und Denker*innen würde man anderes erwarten. Darauf vertrauen, dass das nur ein vorübergehender Zustand ist? Schwierig.
Die Debatte um den Regenbogen
Im vergangenen Herbst entbrannte online eine emotionale Debatte um das „Regenbogenportal“. Auf dieser Internetplattform klärt das Familienministerium über gleichgeschlechtliche Lebensweisen und geschlechtliche Vielfalt auf.
Anlass des Verbalgefechts: Auf dem Portal war ein Informationsartikel für Kinder und Jugendliche in einfacher Sprache erschienen, in dem über die Möglichkeiten der medizinischen Geschlechtsangleichung aufgeklärt wurde. Unter anderem wurden sogenannte Pubertätsblocker, Hormontherapie und operative Eingriffe erläutert.
Insbesondere die direkte Ansprache der Kinder und Jugendlichen wurde harsch kritisiert: Das könnte geradezu als Handlungsempfehlung verstanden werden! Besonders laut wetterte Beatrix von Storch (AfD) auf TikTok und Twitter gegen die Bundesregierung. Diese wolle „unsere Kinder chemisch kastrieren und körperlich und seelisch verstümmeln.“ So weit, so undifferenziert.
Julia Klöckner (CDU) schloss sich an: „Das ist doch irre – sollte das kein Fake sein: Bundesregierung empfiehlt sehr jungen, unsicheren Menschen Pubertäts-Blocker“. Das Regenbogenportal hat den Artikel inzwischen offline gestellt. Stattdessen gibt es dort einen neutraleren Beitrag zur Transition. Statt „du kannst“ liest man nun „manche Menschen entscheiden sich für“.
Nichtsdestotrotz, die Debatte war längst im Gange. Unter dem Hashtag #Regenbogenportal ging es um Transrechte und Selbstbestimmung. Der Tenor: auf der einen Seite offene Transphobie, auf der anderen Unverständnis und Wut darüber.
Ein Mann im Kleid – das „große Problem“
Gleiches Drama Ende Februar in einer Debatte über Sänger Sam Smith: Als homosexueller Mann durch Hits wie „Stay with me“ international bekannt geworden, outete der Brite sich 2019 als nicht-binär. Mit engelsgleicher Stimme Liebeslieder singend sorgte Smith für wenig Kontroverse. Jetzt aber lösen neue Veröffentlichungen und Social Media-Präsenz regelmäßig Shitstorms und heftige Onlinedebatten aus. Smith zeigt sich derweil im Korsett, im Kleid oder halb nackt und bezieht dabei Stellung mit dem Song „I’m not here to make friends“.
Zu lasziv und nach Aufmerksamkeit heischend kritisieren die einen, aufregend und wunderschön befinden die anderen und stellen den Kritiker*innen die Frage: Wer darf sexy sein? Wäre Smith eine junge, schlanke cis-Frau, so die Unterstellung, würde das gleiche Auftreten – getreu der Maxime „sex sells“ – auf Begeisterung stoßen.
Die Debatte driftete vom Streitobjekt (Smiths Auftreten) hin zu Anfeindungen, aber auch zu Protesten gegen Queerfeindlichkeit. Am Ende gab es Diskussionen, die schnell persönlich wurden. Ganz unbedarft gefragt: Warum eigentlich? Wieso kann ein Mensch, der einfach das machen will, was er möchte und ihm entspricht, eine so emotionale Polarisierung auslösen?
Kritik an Social Media – in den sozialen Medien
Die Frage geschlechtlicher Diversität hat zuletzt viel Aufmerksamkeit erhalten. Geschlechtliche Normen und Zuweisungen werden zunehmend hinterfragt. Das Einverständnis mit dem Prinzip Zweigeschlechtlichkeit sinkt. Genauso das Vertrauen darauf, dass Menschen sich einer daraus abgeleiteten sozialen Ordnung unterwerfen wollen. Aber warum sollten sie auch?
Allerdings stehen manche dieser offenen Haltung feindselig gegenüber. Diese Menschen stören sich irrsinnig an einem Aufklärungsportal oder einem Künstler, dessen Musik ihnen vielleicht sogar gefiel, der sich aber „plötzlich“ abseits der Mann-Frau-Binarität identifiziert und Kleider trägt. Gibt es nichts “Tragischeres“, über das zu diskutieren lohnt?
Diese öffentlich geführten Debatten handeln von höchst persönlichen Angelegenheiten. Wo bleibt da die Toleranz gegenüber dem Individuum? Häufig wird bei hochaufgeregten Auseinandersetzungen in der Social Media-Welt selbst auf den moralischen Verfall ebendort verwiesen. Eine Krux, die auch offline zum Tragen kommt.
Weniger Informationen, aber mehr Meinungen
Man muss von einer mangelhaften Debattenkultur sprechen. Eine, bei der die eigene Ansicht als die einzig wahre gelten soll, während sie mit wenig Feingefühl und Selbstreflektion in die Welt posaunt wird. Man könnte argumentieren, es ginge vielen nur darum, recht zu haben, und das funktioniert nicht, wenn man ungehört bleibt.
Dass die eigene Meinung oft auf einer begrenzten Informationslage fußt, stört viele offenbar kaum. Gegenteilige Positionen, die auf anderen, fundierten Informationen basieren, werden trotzdem umgangen. Im Zweifel zählt eben nicht das bessere Argument, zumindest wenn es von der “falschen“ Person geäußert wird.
Von einer öffentlichen Diskussion sollte eigentlich niemand ausgeschlossen werden. (Viele haben gar keine Lust auf Reibereien und beteiligen sich sowieso nicht.) Nur, wenn jede*r zu allem eine Meinung vertritt, aber nur wenig Ahnung hat, wäre definitiv mehr Zurückhaltung und Rücksichtnahme angebracht. Oder wie Autor*innen der Wochenzeitung der freitag befanden: Ansonsten haben wir bald einen „Streitkräftemangel“.