Unsichtbar: Eine Reflexion über unbewusste Vorteile
Privilegien sind wie ein Faden, der sich durch unsere Gesellschaft zieht, ihr ihre soziale Struktur gibt. Sie beeinflussen Erfahrungen und Chancen mehr, als vielen Leuten bewusst ist. Einige sehen sie sogar als ihr selbstverständliches Recht an.
Viele leugnen es auch heute, aber Privilegien können auf verschiedenen Ebenen existieren, sei es aufgrund von Geschlecht, Rasse, sexueller Orientierung oder sozialer Herkunft. Sie manifestieren sich in Positionen, die einer Person mehr Macht und Zugang zu Ressourcen verleihen als anderen. Das Problem dabei ist, dass Privilegien so tief in unseren sozialen Strukturen verwurzelt sind, dass sie für diejenigen, die davon profitieren, zu oft unsichtbar werden. Mit fatalen Folgen.
Seit gut zehn Jahren ist die Geschlechterforschung dabei, der Allgemeinheit mit dem Konzept des „Mansplaining“ zu verdeutlichen, mit welchem Gefälle sie es zu tun hat. Männer haben den (unbewussten) Vorteil, dass ihre Meinungen und Ansichten ernster genommen werden als diejenigen von Frauen. Das führt unter anderem dazu, dass sie Frauen über deren eigene Erfahrungen belehren, als ob diese Männer selbst mehr über die Wirklichkeit einer weiblichen Person wüssten. Autofahren? Da weiß Mann quasi von Natur aus, wo es langgeht, um nur ein Beispiel zu nennen. Dieses Phänomen zeigt, wie Privilegien in alltäglichen Situationen auftreten und Leben von Menschen beeinflussen können, ohne dass es den Privilegierten bewusst ist.
Ein weiteres Beispiel betrifft noch immer die Rassenfrage. Weiße Menschen genießen oft den Vorteil, dass sie rassistischen Zuschreibungen nicht ausgesetzt werden und so nicht die damit verbundenen negativen Erfahrungen machen wie Menschen mit anderer Hautfarbe. Sie können sich in einer Welt bewegen, in der sie nicht ständig wegen ihrer Rasse diskriminiert werden, in der sie nicht immerzu darauf reduziert oder damit konfrontiert werden. Sogar Barack Obama wird wohl am ehesten wegen seiner Hautfarbe amerikanische Geschichte schreiben, nicht so sehr wegen seiner Politik.
Es mangelt an Empathie und Verständnis
Die Unsichtbarkeit von Privilegien kann dazu führen, dass ihre Existenz infrage gestellt oder minimiert wird. Menschen neigen dazu, ihre Erfolge ausschließlich ihrer individuellen Leistung zuzuschreiben, ohne die strukturellen Vorteile zu erkennen, die sie hatten. Es mangelt ihnen deshalb an Empathie und Verständnis für die Lebensumstände der Menschen, die nicht die gleichen Privilegien genießen.
In seinem Essay „(Un)check your privilege“ schreibt der deutsche Kunstwissenschaftler und Journalist Jörg Scheller, dass wir uns noch immer mit unseren eigenen Privilegien auseinandersetzen und uns bewusst machen müssen, wie sie unser Denken, Handeln und unsere Interaktionen beeinflussen. In einem Interview mit der taz erklärt er: „Wenn man eine gerechte Behandlung als Privileg, also ‚Vorrecht‘, definiert, kommt man in ein schwieriges Fahrwasser. Man sollte besser sagen, jemand werde trotz bestehender Rechtsgleichheit ungerecht behandelt.“
Aber wie können wir unsere Perspektiven erweitern und eine inklusivere Gesellschaft schaffen? Indem wir Menschen zu Wort kommen lassen, die marginalisierte Perspektiven repräsentieren, können wir Einblicke gewinnen, die uns (Privilegierten) bisher verborgen geblieben sind. Nehmen wir den Zugang zu Bildung. Es ist längst bekannt, dass Menschen, die in wohlhabenden Gegenden aufwachsen, oft leichteren Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung haben, während solche in Gemeinschaften mit schlechteren Bildungsressourcen dieses Glück versagt bleibt. Doch anstatt systemische, nachhaltige Veränderungen zu erreichen, begnügt man sich auch in entwickelten Staaten mit kleinen Schritten und erspart sich wortwörtlich die nötige Bildungsrevolution. Gesellschaftliche Teilhabe dank gleicher „Chancen durch frühe Bildung“ bleibt da oft nicht mehr als eine oft proklamierte, aber kaum umgesetzte politische Zielvorgabe.
Überwindung der Kluft?
Die Unsichtbarkeit von Privilegien hat nicht nur persönliche, sondern erhebliche gesellschaftliche Auswirkungen auf die politische und wirtschaftliche Machtverteilung. Die Kluft zwischen privilegierten Personen in entscheidenden Positionen und dadurch Benachteiligten wächst. Und sie wächst auch, weil die Art, über Privilegien zu sprechen, einmal mehr die Frage nach der (Verteilungs-)Gerechtigkeit stellt.
Diese Debatte ist deshalb noch nicht zu Ende. Wir müssen uns weiter kollektiv mit der ungleichen Verteilung von Rechten auseinandersetzen. Schließlich leben wir nicht mehr in einer rigiden Ständeordnung. Und wir müssen auch differenzieren lernen, fordert Scheller. „Weiß ist gleich privilegiert und Schwarz unterprivilegiert, ist unscharf und damit ungerecht. Nigerianer etwa steigen in den USA sehr schnell auf, Somalier eher nicht.“
Zu reflektieren, wo ich als Weiße in meinem Leben stehe, fällt nicht immer leicht. Ein Gefühl von Unbehagen oder auch Schuld ist nicht auszuschließen. Aber daran führt kein Weg vorbei, wenn wir alle eine ehrliche Diskussion darüber führen sollen, wie wir als Gesellschaft gleiche Chancen und Gleichberechtigung tatsächlich fördern können.