ProDer Zerfall der Mitte
Die bürgerliche Mitte, wie sie in unserer Vorstellung existiert – traditionelle Kernfamilie mit durchschnittlichem Vermögen und gemäßigt konservativer politischer Einstellung – löst sich auf. Damit einher geht eine Spaltung der deutschen Gesellschaft in ihren grundlegenden Werten und Überzeugungen.
Wo liegt die Mitte der deutschen Gesellschaft? Man könnte sagen: im Durchschnitt der finanziellen Ausstattung, von Bildung und politischen Einstellungen. Doch die bürgerliche Mitte ist mehr als das um diese durchschnittlichen Parameter drapierte Feld. Spricht man von “der“ Mitte, dann ist ein gesellschaftliches Milieu mit bestimmten Werten und einer bestimmten sozialen Lage gemeint: traditionsbewusst, statusgeprägt und strebsam. Der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung steht “die Mitte“ tendenziell positiv gegenüber, Leistung und gesellschaftliche Anerkennung sind ihr wichtig.
In den letzten Jahren jedoch ist ein Auseinanderdriften der Gesellschaftsschichten zu beobachten, das sich sowohl in der sozioökonomischen Lage als auch in den Grundüberzeugungen der Bürgerinnen und Bürger widerspiegelt und sich insbesondere auf die bürgerliche Mitte auswirkt.
Die Schere geht (weiter) auseinander
Kaum ein Monat vergeht ohne die Nachricht, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Eine Studie der Wirtschaftswissenschaftler*innen Thilo Albers, Charlotte Bartels und Moritz Schularick aus dem Jahr 2022 zeigt: In den letzten 25 Jahren hat die vermögendere Hälfte der deutschen Haushalte ihr Vermögen verdoppelt, die andere Hälfte der Bevölkerung hat Einnahmen und Besitz beinahe halbiert – von fünf auf drei Prozent des Anteils am deutschen Gesamtvermögen. Verstärkt wird die finanzielle soziale Ungleichheit aktuell durch die steigende Inflation und die erhöhten Lebenshaltungskosten in Bezug auf Energieversorgung und Lebensmittel, welche finanziell weniger abgesicherte Gesellschaftsschichten besonders hart treffen.
Kann Bildung der sozialen Ungleichheit entgegenwirken? In diesem Bereich sieht es eher ernüchternd aus. Es besteht weiterhin ein enger Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Wo Abschlüsse Türen öffnen, bleiben diese für Personen aus Nichtakademikerfamilien deutlich häufiger verschlossen. Auch unser Bildungssystem trägt nicht dazu bei, dem Auseinanderstreben verschiedener sozialer Schichten entgegenzuwirken.
Unterschiedliche Werte, unterschiedliche Ängste
Nicht nur die sozialen Ungleichheiten in der deutschen Gesellschaft werden größer. Überzeugungen wandeln sich und tragen zu einem Zerfall der bürgerlichen Mitte bei. Das bestätigen die aktuellen wissenschaftlichen SINUS-Milieus des gleichnamigen Markt- und Sozialforschungsinstituts.
Die Forschung des SINUS-Instituts belegt: Aktuell gehen der Lebensstil und die Werte von Personen innerhalb dessen, was wir als Mittelschicht benennen, stark auseinander; während sie gerade darin früher vereint war. In der Folge ergibt sich kaum noch ein einheitliches Bild dieses soziologischen Milieus. Stattdessen spaltet es sich in verschiedene Kleingruppen auf, die aktuellen Entwicklungen sehr unterschiedlich gegenüberstehen. Beeinflusst und verstärkt wird diese Entwicklung durch Digitalisierung und Globalisierung sowie Themen wie Klimawandel, Migration, Coronapandemie und Ukrainekrieg, begleitet von einem allgemein erodierten Sicherheitsgefühl.
Eine Verständigung zwischen den verschiedenen sozialen Bewegungen scheint zunehmend schwierig. Dieses Auseinanderstreben schlägt sich auch in der deutschen Parteienlandschaft nieder. Derzeitige Umfragen sehen die AfD mit 20 Prozent der Stimmen als zweitstärkste Partei. Auf kommunaler Ebene konnte die Partei erste Wahlsiege verzeichnen. Dem stehen politisch linke Initiativen und Gruppierungen gegenüber, die beispielsweise im Rahmen der Klimaprotestbewegung stärker in den Vordergrund treten.
Ein differenzierteres Gesellschaftsbild
Während sich ein Teil der Bevölkerung den modernen Gegebenheiten anpasst, sieht der Großteil der ehemaligen bürgerlichen Mitte „seinen Lebensstil und seine Prinzipien gesellschaftlich entwertet“ – so das SINUS-Institut im Oktober 2021 – und grenzt sich gegenüber Andersgesinnten stärker ab. Wo die Beständigkeit eines „Lebens in der Mitte“ gefährdet ist und Personen sich zunehmend abgehängt fühlen, setzen sich diese weiteren Veränderungen und Modernisierungen vehementer entgegen. Das politische und soziale System gerät vermehrt in die Kritik.
„Das Ende der bürgerlichen Mitte, wie wir sie kannten“ – so titelt das SINUS-Institut in einer Pressemitteilung von 2021. Natürlich lässt sich in Bezug auf Vermögen, Bildungsniveau und politische Einstellung weiterhin rein rechnerisch eine Mittelschicht definieren. Doch was wir bislang unter der bürgerlichen Mitte verstanden haben, gehört der Vergangenheit an. Zeit, unsere Gesellschaft differenzierter zu betrachten – und der verstärkten sozialen Ungleichheit effektiver zu begegnen.
Die Mittelschicht wird abgeschafft und keinen interessiert‘s.
Doch, die kritische Situation ist bekannt. Die wirtschaftlichen Einschränkungen genauso wie auch die politische Konsequenz daraus. Hier kann man sich genauer informieren https://www.fes.de/referat-demokratie-gesellschaft-und-innovation/gegen-rechtsextremismus/mitte-studie-2023