ProDas Ende der Protestkultur
Regierungen liberaler Demokratien benötigen friedlichen Protest gegen ihre eigene Politik – für ihre Politik. Doch demokratischer Widerstand wird nicht selten instrumentalisiert und verschiebt dabei die Frage vom „was“ zum „wie“.
Wenn Kritik am Protest nicht dessen Botschaft in den Blick nimmt, sondern auf die bloße Form des Protests abzielt, wird den Teilnehmenden von Staatsseite vermittelt: ‚Für was auch immer ihr auf die Straße geht, hört damit auf! Die Art und Weise missfällt uns.‘ Dabei müsste eine Proteststrategie spätestens dann überdacht werden, wenn sie der Politik, gegen die sie sich richtet, gefällt.
Genau dahin tendieren die Erwartungen: Wird ein vermeintlicher Störfaktor identifiziert, sind Politik und Medien darum bemüht, die “Unruhen“ scharf zu verurteilen. Durch rechtmäßige Demonstrationen sehen sie die Demokratie gefährdet und rufen im Namen der Republik zur Artigkeit ihrer Bürger*innen auf.
Überhaupt scheint eine gewisse Sittenhaftigkeit in den letzten Jahren zum Kern deutscher (Talkshow-)Debatten auserkoren worden zu sein. Das Befolgen streng kategorisierter sozialer sowie institutioneller Konventionen verleiht offensichtlich eine moralisch überlegene Position. Dass dies andernorts einen reaktionären Backlash fördert, dürfte nicht überraschen.
Wie demokratisch ist Gewalt?
Die Motivation zum zivilen Gehorsam kommt nicht von ungefähr. Es ist der Glauben daran, dass demokratische Politik durch Regierungen gesetzt wird und nur durch sie vorankommen könne. Damit wird der wesentliche Maßstab dessen, was noch als gesetzmäßig gelten kann, gezogen. Und weil die Meinungsfreiheit formal unberührt bleibt, fällt das Argument der Delegitimierung eben auf die Gewaltanwendung.
Es stimmt, es treten Gruppierungen auf den Plan, die unter dem Deckmantel der Demokratie ihre eigenen antidemokratischen Ziele verfolgen. Sie nutzen die gegebenen Freiheiten, um sie – auch mit Gewalt – zu untergraben. Da jedoch das Ausmaß dieser vermuteten Gefahr für die Demokratie nur schwer messbar ist, stellt sich die Frage, ob, und wenn ja, wie viele Rechte und Freiheiten der Gesetzgeber einer Gesellschaft aus Gründen der Prävention entziehen darf.
Und vor allem: Übt der Staat als Monopolist der Gewalt insgesamt nicht die meiste Gewalt aus? Sind nicht gerade Proteste wesentliche Formen des Widerstandes gegen staatliche, nun ja, Gewalt? Und wer entscheidet darüber, wo genau – innerhalb des gesetzlichen Rahmens – die Trennlinie von Zivilem zur Unartigkeit verlaufen soll? Was darf noch als demokratisch gelten?
Ja, unsere demokratische Protestkultur ist in Gefahr. Die Entwicklung hin zu einem zunehmend militarisierten Staat ist Grund zur Sorge. Die Zunahme von Überwachungstechnologien, paramilitärisch ausgerüsteten Polizeieinheiten und die wachsenden Einschränkungen der Versammlungsfreiheit sind Anzeichen für ein System, das autoritäre Mittel in Erwägung zieht, um in Kontrolle zu bleiben.
Im Unterschied zu den Protestierenden, muss der Staat sich im Grunde für seine Gewaltausübung nicht rechtfertigen. Was im Bundestag beschlossen wird, das heißt, die Exekution seiner Gesetze, ein weitgreifender Überwachungsapparat und ein paramilitarisierter Polizeikörper: All das sind laut Staatsräson Maßnahmen, die zivilisiert, organisiert und nicht zuletzt deshalb legitim seien. Mögen die Konsequenzen auch brutal anmuten, von unrechtmäßiger Gewaltanwendung kann demnach nicht die Rede sein. Denn eine Verordnung festzusetzen, gegen die Menschen protestieren, weil sie beispielsweise ihre Rechte einschränkt, ist in dieser Logik keine Ausübung unzulässiger, repressiver Maßnahmen.
Gewaltmonopol ist nicht per se demokratisch
Ästhetisch betrachtet bilden diejenigen, die ihre Wut unter freiem Himmel zum Ausdruck bringen, und jene, die ruhig und gelassen im Anzug in eine Kamera sprechen, den Kontrast zwischen Aggressivität und herrschaftlicher Organisation. Staatliche Strukturen als gewaltfreien oder gar unparteiischen Akteur zu skizzieren und zugleich den zivilen Ungehorsam einiger Bürger*innen zu geißeln, zeugt von Geschichtsvergessenheit.
Auf den Punkt gebracht: Parlamente liberaler Demokratien sind als Miniatursammlungen von Klassendynamiken auf nationaler Ebene zu betrachten. Erst wenn diese in Bewegung kommen, wird erkennbar, dass der Staat nicht nur den Forderungen seiner Gesellschaft Gehör schenken kann, sondern auch, und vor allem zuerst, die wirtschaftlichen Interessen für sein Auskommen sichern will. Partizipativen Protest wird er inhaltlich überhaupt erst dann wahrnehmen, wenn dieser ohne Warnsignal durch den Detektor der langfristigen Erhaltung kapitalistischer Interessen kommt.
Indem führende Politiker*innen zur passiven Zivilisiertheit aufrufen, insistieren sie, dass der einzig zulässige Weg für politischen Wandel letztlich qua Regierungsarbeit erreicht wird. Das heißt, Liberale wie Konservative geben sich gleichermaßen damit zufrieden, dem Wunsch nach Veränderung zu entsprechen, sofern die Zustimmung dafür aus der „herrschenden Klasse“ erfolgt, um mit dem Politikwissenschaftler Gaetano Mosca zu sprechen.
Müssen wir uns von demokratischen Protestformen verabschieden? Ja, wenn sie selbst als undemokratisch diffamiert werden, weil sie das staatliche, nicht notwendigerweise demokratisch angelegte Gewaltmonopol indirekt in Frage stellen, ist diese Entwicklung zumindest nicht unwahrscheinlich. Ist aktive Teilhabe durch Straßen“kampf“ gegen die herrschenden Institutionen also verschwendete Mühe? Zumindest kann man sich darauf verlassen, dass Maßnahmen durchgesetzt werden, wenn die politischen Meinungsführer*innen sie für nötig halten, Protest hin oder her.