Alles aus einer Hand
Ob Müller, Brauer oder Fassbinder – oft weisen Familiennamen auf die handwerklichen Fähigkeiten unserer Vorfahren hin. Heute arbeitet ein Herr Zimmermann eher im Büro als in einer Werkstatt.
„Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.“ Dieses Zitat fand im Bundestag 1995 Eingang in eine Rede Helmut Kohls zur Geschichte der Vertreibung von Millionen von Menschen. Ob sich mit Blick auf die Geschichte eines Berufsstandes von Vertreibung sprechen lässt? Manche Handwerksberufe jedenfalls sind mit der Zeit (nicht nur aus Deutschland) verschwunden, andere finden sich nur noch im (nicht-europäischen) Ausland.
Ganz anders in der Antike. Insbesondere in den Städten blühte das Handwerk auf, wodurch sich Spezialisierungen und arbeitsteilige Prozesse herausbildeten. Erzeugnisse, die heute als Industrieprodukte vergleichsweise einfach fabriziert und massenweise verfügbar gemacht werden, wurden damals in personalintensiven und kaum vorstellbaren, weil zeitaufwendigen Verfahren hergestellt. Leisten konnten sich diese meist nur die Wohlhabenden, die dieser intensiven und oft schmutzigen Handarbeit selbst lieber fernbleiben wollten. Wer weniger betucht war, war gezwungen, möglichst viel in Eigenarbeit zu erledigen.
Das alte Rom als Vorreiter
Im alten Rom war die Herstellung von Wein echte Hand- beziehungsweise richtige Fußarbeit. Nach der Ernte zertraten Sklaven die Trauben in einer Kelter, um die sogenannte Maische zu erzeugen, die heute noch in der Whiskey- und Bierherstellung vorkommt. Baustoffe wie Ziegel und Beton, ohne die die monumentalen Bauwerke Roms nicht möglich gewesen wären, erforderten neben dem mühseligen Abbau von Ton und Kalkstein ausgeklügelte Produktionsverfahren. Für die Ziegelproduktion musste der Ton verwässert werden, um streichfähigen Lehm herzustellen und diesen anschließend in vorgefertigte Ziegelformen zu füllen. Dort ließ man ihn aushärten, bis die Formen in einer Grube gebrannt werden konnten.
Im Mittelalter bildeten sich Zünfte als machtvolle Interessensvertretung der Handwerker heraus. Der Zusammenschluss diente der Einkommenssicherung und trug zu einheitlichen Standards bei Lehre und Qualität bei. Die Zugehörigkeit zur Zunft war Bedingung für die Ausübung eines handwerklichen Berufs. Später war die Wanderschaft junger Handwerker, Gesellen genannt, Voraussetzung zur Meisterprüfung. Bis zur Industrialisierung waren diese Wanderjahre üblich, um unterschiedliche Arbeitspraktiken, aber auch fremde Orte kennenzulernen. Positiver Nebeneffekt: So ließ sich Arbeitslosigkeit vorbeugen.
Jobvernichter Industrialisierung
Die Neuzeit läutete den Niedergang der Zünfte ein. Erst Manufakturen und schließlich maschinelle Industriebetriebe führten zu einer hochgradigen Spezialisierung, die primär kleinteilige und repetitive Arbeiten erforderte. Dafür konnten Qualität und Output massiv gesteigert werden. Infolgedessen verschwanden viele Handwerksberufe oder wurden in Nischen gedrängt.
So machte die Einführung der dampfgetriebenen Webmaschine die Arbeit der Weber überflüssig, was zu einer Verelendung dieser Berufsgruppe führte und in den Weberaufstand 1844 mündete, was Gerhard Hauptmann zu seinem Roman „Die Weber“ inspirierte.
„Überrollt“ wurden die Wagner durch die Automobilindustrie und die mit ihr aufkommende Fließbandproduktion Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Herstellung von Rädern und Gestellen aus Holz verlor extrem an Bedeutung.
Lkws und Eisenbahnen machten wiederum den Job des Flößers obsolet, der Holzstämme über den Fluss bis zu einem verarbeitenden Betrieb treiben ließ. Nicht viel besser erging es den Laternenanzündern, die in Städten für Gas- und Öllaternen zuständig waren.
Straßennamen zeugen von solchen verlorengegangenen Handwerksberufen. Die Böttcherstraße verweist auf das Böttcherhandwerk, die Herstellung von Behältern wie Fässern aus Holz, die Müllerstraße auf das Mahlen von Getreide und die Seilerstraße auf die Seilerzeugung. Weitere Beispiele sind Schmiedegasse, Schneider-, Weber– oder Töpferstraße. Abseits der vom Navi erstellten Routenplanung finden diese Begriffe schon lange keine Beachtung mehr.
Transformation des Handwerks
Elektrifizierung und Industrialisierung schufen aber auch Ausbildungsmöglichkeiten für neue Handwerksberufe. Der (historisch gesehen) junge Beruf des Kraftfahrzeugmechatronikers ist in Deutschland der beliebteste Ausbildungsberuf. Elektriker und Anlagemechaniker wären ohne handwerklich orientierte Industrieprodukte nicht denkbar. Zwar ist handwerkliches Arbeiten bei der Produktion von Materialien weniger wichtig, aber beim Bauen und der Installation weiterhin unverzichtbar. Besonders vor dem Hintergrund der Massenproduktion, die „Massenaufträge“ bedingt. Die (fehlende) Arbeitskraft im Handwerk scheint derzeit wichtiger zu sein als das Material.
In Industrieländern ist die Produktion einstiger handwerklicher Produkte oft zu teuer. Beispiel: Textilindustrie. Die deutsche Textilfirma Trigema ist einigen Deutschen ein Begriff – wohl auch wegen des Affen Charly im TV-Spot – und eine absolute Ausnahme. In Deutschland gibt es mittlerweile nur noch rund 900 Betriebe in der Textil- und Bekleidungsindustrie. Einst bildete die traditionsreiche Branche die Speerspitze der Industriellen Revolution in Deutschland, bis in den 1970ern eine weitgehende Verlagerung der Produktion nach Südosteuropa und Asien stattfand.
Ob Stricken, Nähen oder Töpfern… scheinbar überholte Handwerksarbeit lebt hierzulande oft nur noch als Hobby weiter. In Verwendung für den Instagram-Feed (#Do-it-yourself) oder persönliche Geschenke. Darüber hinaus bietet sie aber auch eine Lösung für unsere Postmoderne: lieber mal den alten Toaster oder das Fahrrad reparieren als gleich wieder etwas Neues kaufen. Hashtag: Wertschätzung. Denn handwerkliches Können hat nicht nur Charme, sondern trägt zu einem nachhaltigen Lebensstil bei, heute und in der Zukunft.