Willkommen im Heiligen Römischen Reich Europäischer Nation?
Wenn wir uns den Staub der Großen Krise aus den Kleidern klopfen, wird die Welt, in der wir erwachen, nicht mehr dieselbe sein. Die Wirtschaft hat längst die Grenzen des Nationalstaats hinter sich gelassen. Die Finanzmärkte haben die staatliche Kontrolle abgeschüttelt, und sie kontrollieren nun die Staaten. Das Überleben Europas hängt von der Frage ab, […]
Wenn wir uns den Staub der Großen Krise aus den Kleidern klopfen, wird die Welt, in der wir erwachen, nicht mehr dieselbe sein.
Die Wirtschaft hat längst die Grenzen des Nationalstaats hinter sich gelassen. Die Finanzmärkte haben die staatliche Kontrolle abgeschüttelt, und sie kontrollieren nun die Staaten. Das Überleben Europas hängt von der Frage ab, ob wir es als gemeinsamen Raum begreifen und grundlegende Fragen gemeinsam regeln können. Die politische Ordnung wird sich diesen neuen Bedingungen und Erfordernissen anpassen. Europa wird, soviel steht fest, postnational.
Wird das Europa von morgen demokratisch?
Aber wie könnte ein postnationales Europa aussehen? Hier enden alle Gewissheiten. Mehr noch: den Europäern, die in den letzten fünfhundert Jahren so viele politische Innovationen hervorgebracht haben, fehlt jede Vorstellungskraft, wie eine neue Ordnung aussehen könnte. Dabei ist dies keine Frage für polit-theoretische Seminare. Auf dem Spiel steht viel mehr, ob das Europa von morgen demokratisch sein wird. Denn eines ist sicher: wenn sich die Gesellschaften nicht in die Gestaltung der neuen Ordnung einmischen, werden gut organisierte Interessengruppen Fakten schaffen.
Vielleicht hilft ein absurdes Gedankenspiel unserer politischen Fantasie ein wenig auf die Sprünge. Was, wenn wir in diesen Tagen bereits die Formierung einer neuen Ordnung erleben? Wenn wir stumme Zeugen der Geburt des Heiligen Römischen Reiches Europäischer Nation sind?
Wie jetzt, was hat denn das olle Kaiserreich mit dem Europa von morgen zu tun?
Mehr, als man auf den ersten Blick vermutet. Historiker, weghören: Zeit für einen kruden Vergleich (Empörung!).
Auch heute leben in Europa die verschiedensten Völker, Sprach- und Religionsgemeinschaften in einem Sammelsurium großer und kleinster Staaten, freier Städte und abhängiger Gebiete zusammen. Das Ganze wird zusammengehalten von einem losen föderalen Überbau, der an den Rändern ausfranst und in eine Korona von Mitgliedschaftsbewerbern und privilegierten Partnern ausfasert. Von Bosnien bis Kosovo, von Griechenland bis Italien stehen Völker unter der Kontrolle Brüssels.
Agiert die Londoner City nicht wie die Wiedergängerin des Finanzzentrums der Renaissance, des machiavellischen Florenz? Sind die Unterschiede zwischen den industriellen Zentren und den rückständigen Peripherien nicht ähnlich groß wie zu den Hochzeiten der Niederlande? Könnte man die Akteure der Finanzmärkte nicht als postindustrielle Aristokratie verstehen, die im Dauerclinch mit der Krone ihre Eigeninteressen auf Kosten des Gemeinwohls durchsetzen will?
Und führen die Finanziers die Krone nicht ebenso am Nasenring durch die Manege, wie das die Fugger getan haben? Schwanken die technokratischen Exekutiven nicht, wie einst die Krone, zwischen der Verbrüderung mit der Finanzmarkt-Aristokratie und dem Schutz der Interessen der Bevölkerung? Haben die nationalen Parlamente nicht gerade einen konstitutiven Teil ihrer Gewalt verloren, indem sie ihr Budgetrecht mit dem Fiskalpakt unwiderruflich an eine gegen jede Strafverfolgung immune Exekutive übertragen haben? Fordern die Bürger von Stuttgart bis Berlin nicht nach kleinen und kleinsten Entitäten, um die Dinge des unmittelbaren Lebensumfeldes unter sich regeln zu können?
Na prima, möchte man denken, verfällt Europa wieder einmal in Kleinstaaterei, während Amerikaner, Chinesen, Inder und Brasilianer die Welt unter sich aufteilen. Droht dem Heiligen Römischen Reich Europäischer Nation etwa das gleiche Schicksal wie seinem unglücklichen Urahn, der von den ungleich kompakteren Nationalstaaten hinweggefegt wurde?
Umgekehrt kann ein Gebilde, das ein Jahrtausend lang Bestand hatte, nicht ganz verkehrt gewesen sein. Dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation ist es gelungen, die Interessen seiner Bestandteile auszugleichen und Völker mit unterschiedlichsten Identitäten an sich zu binden.
Die ultraföderale Ordnung erlaubte die Integration zweier gegensätzlicher Erfordernisse, die wir auch heute wieder zu einem Ausgleich bringen müssen: sich einerseits im globalen Wettbewerb durch eine starke Exekutive zu behaupten, und andererseits lokale Angelegenheiten dort zu regeln, wo die Identitäten wurzeln. Dieses hochkomplexe, kosmopolitische Governance-Modell, das eher auf Aushandlung als auf Zwang beruhte, kann durchaus inspirierend für die Gestaltung des Europa von morgen sein.
Na gut dann: „Es lebe das Heilige Römische Reich Europäischer Nation!“
Applaus, Konfetti, Kanonenschüsse?
Mitnichten. Denn die Gretchenfrage bleibt unbeantwortet: wird dieses Heilige Römische Reich Europäischer Nation demokratisch sein? Der Trend der letzten Jahre zeigt eindeutig in die entgegengesetzte Richtung.
Damit das Europa von morgen demokratisch wird, müssen wir es heute so umbauen, dass es unter veränderten Bedingungen seine grundlegende Funktion erfüllen kann: das Ringen der gesellschaftlichen Kräfte in der Frage zu moderieren, wie wir in Zukunft zusammenleben wollen.
Das Europa von morgen muss das Gleichgewicht zwischen Markt, Staat und Gesellschaft wiederherstellen. Damit in diesem Ringen alle gesellschaftlichen Kräfte gleiches Gehör finden, müssen wir die Partizipation aller am politischen Leben verbessern. Marktakteure und Technokraten stehen bereit, ein undemokratisches Heiliges Römisches Reich Europäischer Nation zu schaffen. Die Bürger dürfen sich also nicht in „kommunalen Schutzräumen“ vor den Stürmen der Krise verkriechen. Auch die Karlsruher Nibelungentreue zum untergehenden Nationalstaat ist keine passende Antwort auf die Krise Europas.
Europa wird nur aus der Krise finden, wenn wir es als gemeinsamen Raum verstehen und gemeinsame Regeln setzen. Europa wird, ob wir es wollen oder nicht, postnational werden. Also müssen wir Bürger uns einmischen, um das Europa von morgen demokratisch zu gestalten.