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Lettische Lehrjahre

Von Judith Dauwalter / 22. Juli 2014
Flaggen von Lettland und Europäischer Union / picture alliance / SZ Photo | Rainer Unkel

„Alternativlos“, „ein Ankommen“, „die Rückkehr zur europäischen Familie“: Die EU-Mitgliedschaft ihres Heimatlands bewerten viele Letten positiv. Die rosarote Brille haben sie zehn Jahre nach dem Beitritt Lettlands zur EU jedoch nicht auf.

Fünf Milliarden Euro – so viel mehr floss in den Jahren 2007 bis 2013 aus EU-Fonds nach Lettland als in die umgekehrte Richtung. „Jeden Euro, den wir in den EU-Haushalt einbezahlen, erhalten wir vervierfacht zurück“, rechnet die lettische Botschaftsrätin in Deutschland, Guna Japiņa, vor. Die Gelder investiert das Land in Bildung und Forschung. Auch deshalb könne man von einer positiven Bilanz der ersten zehn Jahre Lettlands in der EU sprechen.

Dennis Hanovs, der als Forscher und FES-Mitarbeiter täglich zu den Themen Lettland und Europa arbeitet, freut sich auch über das problemlose Reisen in andere EU-Länder dank dem Beitritt zur Union 2004 und zu dem Schengen-Raum 2007. Auf diese Reisefreiheit haben er und seine Landsleute lange gewartet.

Vollblut-Europäer seit über 20 Jahren: Die Reisefreiheit ist ein ausschlaggebender Grund für den Forscher und Stiftungsmitarbeiter Dennis Hanovs, die Integration weiter voranzutreiben. (Foto: privat)
Vollblut-Europäer seit über 20 Jahren: Die Reisefreiheit ist ein ausschlaggebender Grund für den Forscher und Stiftungsmitarbeiter Dennis Hanovs, die Integration weiter voranzutreiben. (Foto: privat)

„Meine erste Nachwende-Reise ging von Riga nach London – mit stundenlangem Warten zwischen Lettland, Litauen, Polen und Deutschland. Über die Grenzen zu Frankreich und England kamen wir innerhalb von Sekunden – seitdem bin ich Europäer“, erinnert sich Hanovs. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Lettland zur Sowjetrepublik geworden und Reisefreiheit war undenkbar. Noch immer empfinden viele Letten die Sowjet-Zeit als prägend.

Besonders vor der Ukraine-Krise waren viele Letten Brüssel und den EU-Institutionen gegenüber skeptisch. Hatten sich 2003 noch 67 Prozent in einem Referendum für den Beitritt zur Union ausgesprochen, vertraut der EU laut aktuellem Eurobarometer nur noch jeder zweite befragte Lette.

Gerade die Wirtschaft hat sich nicht so entwickelt wie von vielen erhofft: Etwa ein Drittel der Letten lebte 2008 in Armut. Die Finanzkrise traf das Land besonders schwer und führte zur Verstaatlichung der zweitgrößten Bank, außerdem ist Korruption ein großes Problem. Die wirtschaftliche Not treibt besonders viele junge Letten zur Auswanderung.

Botschaftsrätin Japiņa kennt auch positive Zahlen, die nach Ansicht der Regierung das Bild bestimmen. Der lettische Export hat sich laut Japiņa in den vergangenen zehn Jahren verdreifacht –mehr als die Hälfte der ausgeführten Waren verblieb in der EU. Der Import habe sich verdoppelt und auch die Investitionen ins Land seien gestiegen – dank dem klaren und stabilen rechtlichen Rahmen, den die EU vorgebe.

Löhne und Bruttoinlandsprodukt hätten sich, wenngleich im europäischen Vergleich noch immer niedrig, beträchtlich erhöht. Ohne die finanziellen Hilfen in den Krisenjahren hätte man sich nie dermaßen schnell, effizient und erfolgreich regenerieren können.

Einzigartige Kultur

„Fleiß, Arbeit, Sitten und Wohlstand – unter diesem Motto tragen wir zum Projekt EU bei“, sagt die Botschaftsrätin. Symbolisch verkörpert sind diese Werte im traditionellen Trachtenmädchen, das auch die lettischen Euromünzen seit deren Einführung im Januar 2014 prägt. So wollen die Letten sich weiterentwickeln: Beispielsweise soll das Bildungssystem besser den realen Anforderungen angepasst werden. Das soll auch mit Hilfe deutscher Unterstützung im Bereich der dualen Ausbildung geschehen, in dem schon verschiedene Pilotprojekte angelaufen sind.

Sie haben die EU in den letzten zehn Jahren auch schon bereichert, etwa mit ihrer Kultur – das betont besonders Neil Ebden, Vorstand der lettischen Gemeinschaft in Deutschland. Als Sohn einer Kriegsgeflohenen aus Lettland trat er schon in jungen Jahren für das Land seiner Vorfahren ein und engagierte sich für die Unabhängigkeit. Mittlerweile liegt ihm und der lettischen Gemeinschaft vor allem am Herzen, die einzigartige Tradition zu bewahren, zu fördern und zu zeigen – auch in seinem Beruf als Reiseveranstalter.

„Die einzig sinnvolle Alternative“ war Lettlands Beitritt zur EU findet Neil Ebden – Vorsitzender der lettischen Gemeinschaft in Deutschland. (Foto: privat)
„Die einzig sinnvolle Alternative“ war Lettlands Beitritt zur EU findet Neil Ebden – Vorsitzender der lettischen Gemeinschaft in Deutschland. (Foto: privat)

„Wir sind bekannt als das Land, das singt“, sagt Ebden und erzählt von riesigen Sängerfesten, Liedern für jeden Anlass und der „singenden Revolution“. Sein Land sei geprägt von fast 500 Kilometern Ostseeküste mit weißem Sandstrand, von Wäldern und Seen, einer beeindruckenden Natur, schwärmt Ebden. Auch die Städte empfiehlt er wärmstens, etwa Riga, die Kulturhauptstadt Europas 2014: „So viel Jugendstil wie dort gibt es nur in wenigen anderen europäischen Metropolen zu bestaunen.“

Eigene Stimme entwickeln

Lettland, das kleine nordeuropäische Land mit einem Fünftel der Fläche Deutschlands und kaum mehr Einwohnern als Hamburg, verdient einen differenzierten Blick. Es ist mehr als Krisenstaat oder Musterschüler, als Osterweiterungs-Jubilar oder Euro-Neuling.

Dennis Hanovs, der Wissenschaftler aus Riga, bezeichnet die EU-Jahre seiner Heimat als Erfolgsgeschichte. Er bezweifelt, dass ihm alle seine Landsleute zustimmen – das liege aber vor allem an mangelndem Wissen über die EU. „Wir haben nun die ersten Erfahrungen gesammelt und gelernt, jetzt müssen wir echte Kompetenzen und eine Stimme entwickeln“, sagt Hanovs.

„Wir müssen verstehen, wo unsere Nische ist und die EU durch unsere neun Parlamentssitze aktiv gestalten.“ Lettland nimmt in der ersten Jahreshälfte 2015 die Ratspräsidentschaft wahr. „Wir müssen uns mit der EU weiterentwickeln, um nicht wieder zurückzufallen in nationale Ängste, Konflikte, und Grenzen, an denen wir mitten in Europa stundenlang warten müssen.“

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