Anekdoten aus dem Leben einer Ostdeutschen
Manche Menschen glauben, dass wieder öffentlich gewordener Rassismus in Deutschland sich überwiegend an Geflüchtete richtet. Ich wurde hier als Deutsche geboren, in der ehemaligen DDR. So erlebe ich Rassismus im Alltag.
Eisleben, 12. September 1998
Musikunterricht. Wir lernen ein neues Lied: C-a-f-f-e-e trink nicht so viel Kaffee! Nichts für Kinder ist der Türkentrank, schwächt die Nerven, macht dich blaß und krank. Sei doch kein Muselmann, der ihn nicht lassen kann!
Während wir singen, frage ich mich, was das denn sei: ein Muselmann? Nie gehört. Und was ist ein Türkentrank? Ich denke daran, dass wir im Kindergarten Kinderkaffee trinken mussten. Ekelhaft. Ich zeige auf die Wörter und frage meine Banknachbarin: Was ist das? Sie weiß es auch nicht. Aber Türken, das seien die mit den langen Nasen. Die machen Kaffee ohne Filter und trinken richtig viel. Ich verstehe das Lied nicht und singe einfach weiter.
Paris, 27. März 2009
Mein Jahr als Au-pair ist fast vorbei. Französisch spreche ich inzwischen ziemlich gut. Zwar ist mein Wortschatz auf das Wesentliche begrenzt, aber die Aussprache habe ich drauf. So gut, dass ich häufig für eine Französin aus Martinique gehalten werde. Inzwischen weiß ich, wo das liegt und habe sehr nette Menschen von dort kennengelernt. Komisch ist nur, dass sich immer alle bei mir entschuldigen, wenn sie erfahren, dass ich Deutsche bin und nicht aus einem Überseedepartement komme. Was ist denn so schlimm daran, aus Martinique zu stammen?
Leipzig, 14. Mai 2011
Ich bin bei der Arbeit. All you can dance. „Coole Frisur! Ich liebe Rastas.“ „Danke!“, entgegne ich. Ob ich tanzen wolle. „Ich kann nicht tanzen“, sage ich. „Ja, klar. Alle schwarzen Frauen können tanzen. Das ist sinnlich und sexy und nur ein Vorgeschmack darauf, was ihr noch so alles könnt.“
Ankara, 20. Oktober 2014
Mein Handy vibriert. „Darf ich dich etwas fragen? Du darfst aber nicht sauer werden.“, schreibt ein Bekannter „Klar“, tippe ich. Die Antwort lässt nur wenige Sekunden auf sich warten. Mein Gesicht verliert jede Farbe. Ich rede mir ein, mein Türkisch sei einfach zu schlecht. Es müsse sich um ein Missverständnis handeln. Er war doch bisher so normal. Nach einiger Zeit des Schweigens: „Du hast gesagt, dass du nicht sauer wirst.“ Als ich meinen Mitbewohner bitte, mir die Nachricht ins Englische zu übersetzen, greift er sofort nach seiner Jacke, um meinen Bekannten zur Rede zu stellen. So dürfe niemand mit einer Frau reden, wütet er. Der andere Mitbewohner sagt, ich hätte damit rechnen müssen und dass meine Erfahrungen mir doch seit Monaten zeigen, dass schwarze Frauen in den Köpfen der meisten Männer nur Sexspielzeuge seien. Ich werde ihm nie antworten.
Leipzig, 12. Januar 2015
Für mich war Leipzig immer die schönste Stadt der Welt. In den Nachrichten erfuhr ich von PEGIDA. Ich dachte: Wenn ich wieder in Deutschland bin, erwarten mich mehr als dumme Sprüche über meine Hautfarbe. Jetzt bin ich zurück. In der Uni wärme ich mich mit anderen Kommiliton*innen auf. Von oben sieht die Menschenmenge am Augustusplatz viel größer aus. Worum geht es hier eigentlich? Als ich Leipzig vor einem halben Jahr verließ, hätte ich nicht gedacht, hier je gegen Rassismus auf die Straße zu gehen. „Ihr seid vielleicht das Volk, aber wir sind Volker!“ steht auf einem Transparent. Wer sind „wir“ und haben jene Menschen, die den Osten aus Angst vor Übergriffen meiden, recht? Bisher habe ich immer widersprochen.
Hamburg, 17. Mai 2017
Nein, das lasse ich nicht zu! Wir sind nach Hamburg gekommen, weil hier alles besser sein soll. Bunte Gesellschaft, links und so. Fast hätte ich es geglaubt: rassistischer Osten, weltoffener Westen. Nun sitze ich hier und höre mir an, wie der Abteilungsleiter mir im Vertrauen erzählt, man diskutiere an der Schule, ob ich mit Kopftuch unterrichten dürfe. Ausnahmsweise ginge es, da die Schüler selbst Migrant*innen seien. Dass ich mehrfach Diskriminierungserfahrungen im Kollegium sammelte, täte ihm leid. Er wisse, dass nicht alle offen sind. Dennoch hätte der Schulleiter recht: Ich dürfe mich nicht ohne Absprache zur Wehr setzen. Ich frage mich: Diskriminieren die Kolleg*innen mich mit vorheriger Genehmigung des Schulleiters?
Hamburg, 14. Juni 2018
Früher ging es mir wochenlang schlecht, wenn wieder einmal jemand rassistisch mir gegenüber auftrat. Wenn ich beispielsweise in aller Eile über eine rote Ampel ging, hörte ich hinter mir „Wir sind hier nicht in Afrika!“ Jetzt gehört es zu meinem Alltag, öffentlich angefeindet zu werden. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, im Netz Artikel zu lesen, unter denen ich rassistische Kommentare vermute. Ich werde täglich fündig und melde meinen Fund den Admins. Heute ging es zum Beispiel um Lehrerinnen, die in Berlin mit Kopftuch unterrichten wollen. Vor Gericht wurde ihr Wunsch zurückgewiesen. Die Kommentare unter dem Artikel ließen alle das Gleiche verlauten: „Richtig so! Wer hier leben will, muss sich anpassen und darf kein Kopftuch tragen.“ In mir zieht sich alles zusammen. Ich bebe. Auch ich kenne so etwas: „Das Kopftuch ist ein Zeichen der Unterdrückung. Unser Betrieb steht für Freiheit. Ich weiß, wovon ich rede. Meine Freundin ist Iranerin und trägt kein Kopftuch.“
Hamburg, 08. September 2018
Mir steigen die Tränen in die Augen, als ich lese, was sich neben den Demonstrationen in Chemnitz noch ereignete: ein jüdisches Restaurant wurde angegriffen. Der Eigentümer wurde verletzt und beleidigt. Nicht nur, dass die von hochrangigen Politikern in Zweifel gezogene Hetzjagd auf nicht-weiße Menschen als tatsächlich authentisch eingestuft wurde. Nein, auch der zunehmende Antisemitismus ist mir zuwider. Unwillkürlich denke ich an etwas, das ein muslimischer Kollege vor genau einem Jahr zu mir sagte: „Wir müssen vorsichtig sein, immer einen Plan B außerhalb Deutschlands im Hinterkopf behalten.“ Die Juden hätten damals auch nicht geglaubt, dass es wirklich so kommen könne.