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Deins, seins, meins

Von Yves Bellinghausen / 14. November 2018
picture alliance/dpa | Uwe Zucchi

Raum zum Wohnen und Arbeiten wird in Städten immer teurer. Co-working, Co-living – Kooperieren ist unter Städtern beliebter denn je. Doch Frederik Fischer aus Berlin will mehr: Er gründet gleich ein ganzes Co-Dorf

Für viele Leute sind urbane Zustände inzwischen zu groß und zu schillernd. Berlin wächst und wächst, der Frankfurter Speckgürtel wird jedes Jahr etwas breiter, doch gleichzeitig steigt die Zahl der Bewohner, die nur noch raus wollen oder müssen, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten können.

Was dramatisch klingt, könnte im Grunde auch ganz einfach sein: Man kauft oder mietet sich ein Haus in der brandenburgischen Provinz – der Leerstand ist dort groß, die Kosten niedrig. Das Problem für viele ist nur: Arbeit und Kontakte bleiben in der Großstadt.

Landliebe dank Digitalisierung

Vor diese Zwickmühle steht auch Frederik Fischer, der in Berlin lebt oder „im Moloch“, wie er sagt. Aber der Journalist hat eine Idee: Warum nicht ein eigenes Dorf gründen, mit zentralen Gemeinschaftsräumen, zusammen mit Freunden und Gleichgesinnten? Eine sehr, sehr große WG würde das oder ein weiträumiger Co-workingspace, mithin eine Art „Co-Dorf“.

Kodorf – so heißt der große Traum des Enddreißigers dann auch tatsächlich. Zwischen 50 und 150 Häuser sollen hier entstehen, es wird einen gemeinsamen Raum für die Mahlzeiten geben und – ganz wichtig – Raum für Co-working. Die Leute sollen hier nicht nur wie in der Stadt leben, sondern auch arbeiten können. Immerhin brauchen immer mehr Menschen für ihre Arbeit lediglich einen Laptop und schnelles Internet, insofern haben etliche Teile der Bevölkerung tatsächlich die Chance, ihren Lebensmittelpunkt auf’s Land zu verlegen, ohne dafür zum Landwirt werden zu müssen.

Kommerz mit Kodörfern?

Eine nicht zu unterschätzende Herausforderung ist es allerdings, alteingesessene Landbewohner für sich und seine digitale Bohème zu gewinnen, weiß Fischer. Am Ende könnten die Exilberliner mit ihren Kodörfern die Landbevölkerung so verdrängen wie die Schwaben die Urberliner im Prenzlauer Berg. Frederik Fischer lacht unter seinem Bart verschmitzt auf. „Das wollen wir natürlich nicht. Darum nehmen wir uns viel Zeit, um mit geeigneten Gemeinden Gespräche zu führen.“ Gerade stehe man mit zweien in konkreten Verhandlungen, eine in Baden-Württemberg, die andere in Nordrhein-Westfalen.

Die Häuser sollen jeweils ungefähr 100.000 Euro kosten. Verglichen mit aktuellen Wohnungspreisen in deutschen Großstädten ist das geradezu günstig. Zudem muss man nicht dauerhaft selbst in seinem Haus im Kodorf leben, man kann es auch vermieten oder nur am Wochenende kommen; die Seminarräume könnte man Gruppen anbieten, die sich zur Erholung oder für Fortbildungen auf’s Land zurückziehen wollen. Droht aber dem Dorf am Ende nicht, eine Art Centerpark zu werden, wie die kommerziellen Feriendörfer in den Niederlanden? Im Nachbarhaus zöge dann jede Woche eine andere Großstadtfamilie für einen Urlaub auf dem Land ein und im Co-workingspace träfe sich die nächste Retreat-Gruppe um 11 Uhr zum Yoga.

Die Wartelisten sind lang

„Tatsächlich müssen wir uns noch darüber verständigen, wie das Zusammenleben genau aussehen soll“, sagt Fischer. Vielleicht müsse man irgendwann die Vermietung der Häuser untersagen. In Deutschland gibt es für ein solches Experiment noch keine Erfahrungen. „Man muss es ausprobieren.“ Für Fischer überwiegen die absehbaren Vorteile jetzt, da er erstmals Vater wird, umso mehr. Wenn es mit einer der beiden Gemeinden klappt, könnte der erste Spatenstich schon Mitte kommenden Jahres stattfinden. Auf der Warteliste stehen etwa 500 Interessenten.

Der Reiz von Kodöfern liegt wohl auch darin, etwas Neues, Eigenes zu gestalten. Ein Lebenswerk für eine Gemeinschaft zu schaffen. „Hier in Berlin werden zwar immer weiter Häuser gebaut, die meisten sehen aber aus wie aus der Retorte“, klagt Fischer und fügt hinzu, „als Bürger hat man nur selten das Gefühl, irgendwo etwas mitgestalten zu können“.

Eines Tages, glaubt der Noch-Berliner, könnte es weitaus mehr Kodörfer geben. Natürlich wird die Stadt auf absehbare Zeit kein Auslaufmodell sein, aber die Probleme, die sie generiert, lässt Menschen wie ihn nach Alternativen suchen und eine Antwort finden auf die Schattenseite der Digitalisierung: die Vereinzelung. Fischer warnt davor, schließlich verdingt er sich selbst „im Internet“. Das Kodorf ist deshalb auch eine Antwort auf die Gefahr einer zunehmenden Isolation, die die Arbeit als digitaler Nomade mit sich bringt. Gleichzeitig macht das Internet ein Konzept wie das Kodorf überhaupt erst möglich, denn ohne Arbeit im Internet wären die Kodörfler größtenteils wahrscheinlich arbeitslos. Verrückte Dialektik.

Wer nicht genug kriegen kann von dieser Geschichte: Teil 2 findet sich hier https://sagwas.net/kultur-und-begegnung-sind-wichtiger-als-co-working/

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