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Der ganz große Stresstest

Von Jonas Jordan / 6. Oktober 2015
Parc du Cinquantenaire in Brüssel / picture alliance / Zoonar | Noppasin Wongchum

Gefühlt jagt in Brüssel ein Gipfel den nächsten. Doch tatsächlich werden Entscheidungen lange abgewogen und dadurch besonders gut, sagt Uwe Optenhögel, Büroleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Brüssel.

Herr Optenhögel, ist Brüssel noch Belgien oder schon Europa?

Brüssel ist schon sehr weit Europa. Wobei es hier zwei Welten nebeneinander gibt: eine belgische Welt und eine Europa-Welt. Wenn man sich ansieht, wie viele Leute hier in europäischen Institutionen arbeiten,  und wie diese sich untereinander austauschen, würde ich sagen: Brüssel ist ein Ort, an dem es eine europäische Öffentlichkeit schon gibt. Eine europäische Öffentlichkeit, wie wir sie in größerem Stil gebrauchen könnten.

Und was ist mit der belgischen Welt?

Natürlich gibt es in Brüssel Viertel, die gar nichts mit der EU zu tun haben. Migrantenviertel innerhalb der Stadt, die sehr geprägt sind von einem ganz anderen Lebensstil. Da merkt man dann nicht so viel von Europa.

Wie wirkt sich dieser Dualismus auf die Arbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung vor Ort aus?

Wir als Friedrich-Ebert-Stiftung versuchen, die europäische Agenda aus einer sozialdemokratischen Perspektive mitzugestalten, aber Brüssel ist inzwischen ein ziemliches Haifischbecken, in dem viele Think-Tanks und Lobbygruppen darum wetteifern, die Agenda zu setzen. Es gibt circa 27.000 Lobbyisten in Brüssel – etwas einer pro EU-Beamtem – und 6.500 registrierte Lobby-Gruppen. Das heißt, dass es für uns als Friedrich-Ebert-Stiftung ein hochkompetitiver Raum ist, in dem wir versuchen, unsere Themen zu setzen.

Was macht Brüssel als Standort für europäische Politik denn so attraktiv?

Brüssel ist ein sehr guter Standort für die europäischen Institutionen. Eine europäische Hauptstadt kann natürlich nie in einem der großen Länder sein. Völlig undenkbar wäre es, Berlin, Paris oder London zur europäischen Hauptstadt zu machen. Schon bei der Gründung der Europäischen Union war klar, dass die „Hauptstadt“ in ein kleineres Land muss.

Gerade in der Flüchtlingsfrage entsteht aktuell der Eindruck, dass viele Staaten ihr eigenes Süppchen kochen. Befürchten Sie eine Renationalisierung Europas?

Ich glaube, eine Renationalisierung können wir uns nicht leisten. Die Flüchtlingspolitik ist der ganz große Stresstest. Sie hat eine noch höhere Sprengkraft als der Umgang mit Griechenland, und zwar deswegen, weil von der Flüchtlingsfrage alle Länder bis auf die kommunale Ebene direkt betroffen sind.

Bei der Griechenland-Krise war das nicht der Fall?

Nein, kein Deutscher hat jemals etwas für Griechenland gezahlt. Auch kein Franzose, Österreicher oder Finne. Das war ein abstrakter Streit über den Umgang mit einem Land, wo man beobachten konnte, dass es den Menschen in dem Land schlechter ging, aber man selber saß hoch und trocken und hat nichts davon abgekriegt.

Uwe Optenhögel (2.v.l.) bei einer Podiumsdiskussion im Rahmen der FES-Sommeruniversität.
Uwe Optenhögel (2.v.l.) bei einer Podiumsdiskussion im Rahmen der FES-Sommeruniversität.

Und aktuell?

In der Flüchtlingskrise ist das ganz anders. Da kriegen eher die Politiker nichts ab, aber die Leute, die unten im Sportverein sind in einer Kommune, können plötzlich nicht mehr Volleyball spielen, weil die Turnhalle mit Flüchtlingen belegt ist. Das fördert jetzt sehr viele Ressentiments und nationalistische Politik zutage. Eine Lösung des Problems wird es nur gesamteuropäisch geben.

Was sind in diesem Kontext die größten Herausforderungen für die Europäische Union?

Die eigentliche Herausforderung für die EU besteht in zwei Dingen. Das eine ist die Frage, wie man wirklich mit den Menschen umgeht, die kommen. Was tut man für sie und was tut man nicht für sie? Die zweite Herausforderung ist: Kann man die EU zusammenhalten und kann man sich auf Gemeinsamkeiten verständigen, obwohl die Positionen so auseinandergehen?

Sie haben kürzlich bei einer Podiumsdiskussion gefordert, mehr sozialdemokratische Beiträge zur Zukunft Europas zu leisten. Wie könnten diese aussehen?

Europa ist in den vergangenen fünf Jahren sehr viel sozial ungerechter geworden. Wir haben eine Tendenz, dass Europa ökonomisch auseinandertreibt. Eine der originären Aufgaben der Sozialdemokratie wäre, dass die Leute wieder eine faire Chance auf gute Bildung, auf Wohlstand und Einkommen entwickeln, wie sie sie in Krisenländern heute nicht mehr haben.

Trotzdem sind es – mit Ausnahme von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz – vor allem Konservative, die zurzeit die Zukunft Europas bestimmen. Wie passt das zusammen?

Das ist so, aber das spiegelt nur die Wahlergebnisse in den einzelnen Ländern wider. Es gibt so viele Kommissare wie es Länder in der EU gibt. Die Kommissare werden nicht gewählt, obwohl sie quasi die Regierung Europas sind, sondern von ihren Ländern ernannt. Insofern ist die Kommission heute mehrheitlich konservativ. Das war mal anders, aber da haben die Sozialdemokraten auch nichts aus ihrer Übermacht gemacht.

In welchen Bereichen sehen Sie für die Sozialdemokratie den größten Nachholbedarf?

Es gibt zwei Bereiche, der eine ist Wirtschafts- und Finanzpolitik, der zweite ist Sozialpolitik. Wenn die Leute, die in Europa leben, nicht das Gefühl haben, Europa tut was für sie und sichert sie sozial ab oder gibt ihnen Chancen, dann wird die EU keinen dauerhaften Bestand haben. Wenn die Bevölkerungen in vielen Ländern über einen längeren Zeitraum den Eindruck haben, dass die Europäische Union nur für reiche Leute ist, wird sich das nicht halten lassen.

Was ist notwendig, um das zu verhindern?

Wir sind der Meinung, eine Sozialagenda wäre sehr wichtig. Man muss in der Wirtschaftspolitik mehr machen als diese Sparpolitik, die die konservativen Regierungen gemacht haben. Der Effekt davon ist, dass die Staaten arm sind, höher verschuldet als vorher und wenig Handlungsspielraum haben. Die Annahme der Neoliberalen, man würde mit einer rigiden Sparpolitik irgendwann mal den Boden des Fasses finden und dann würde wieder alles steil nach oben gehen, hat sich bisher nicht bestätigt.

Also ist die Sparpolitik der EU gescheitert?

Sie ist nicht völlig gescheitert bei der Einhebung der Eurokrise. Es gibt den Euro ja noch. Es sind auch viele richtige Reregulierungen gemacht worden im Finanzmarktbereich, aber das sind alles Schritte, die aus unserer Sicht nicht weit genug gehen.

Was macht Europa für Sie heute aus?

Das sind zwei Versprechen, die Europa für die Leute gibt. Das eine ist natürlich der Frieden. Es gibt aktuell – auch aufgrund der Krisen im Osten – eine Renaissance der EU als Friedensprojekt. Das zweite große Versprochen ist die Aussicht, gemeinsam mehr Wohlstand zu schaffen und sicher in Frieden zu leben.

Was macht die EU sonst noch besonders?

Die Europäische Union ist natürlich langsam. Das heißt, dass alle Probleme, die auftauchen, von denen man denkt, sie müssten eigentlich schnell gelöst werden, nur langsam gelöst werden. Aber in einer Welt, die ganz stark durch Beschleunigung gekennzeichnet ist, ist das manchmal ein ungeheurer Vorteil. Die Verfasstheit Europas, dass so viele mitreden müssen und mitreden können, ist nur manchmal ein Nachteil und sehr oft von Vorteil.

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