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„Der Kopf ist ausschlaggebend“

Von Zita Hille / 23. März 2022
picture alliance / Zoonar | Khosrow Rajab Kordi

Gewalt mit Gewalt bekämpfen? Jedes Kind lernt, dass das meist nicht gutgeht und deshalb nicht erlaubt ist. Markus Hering sieht im Kampfsport aber ein mehr als passendes Mittel, um nicht nur körperlicher Gewalt Einhalt zu gebieten.

Selber mit systematischem Hass und roher, körperlicher Gewalt konfrontiert zu werden, erscheint uns in hier Deutschland geradezu unwirklich. Doch niemand ist davor gefeit.

Sich zu schützen entspricht dem eigenen natürlichen Instinkt. So manche Verteidigungsstrategie aber erinnert eher an einen Angriff. Markus Hering aus Ingelheim am Rhein lehrt in seinen Selbstverteidigungskursen das Eine vom Anderen zu unterscheiden. Für ihn ist Kampf zugleich eine Kunst, die es zu erlernen gilt.

Seine Kurse bietet er im Rahmen der Ving Tsun Federation (EVTF) an – einer europaweiten Vereinigung, die sich an der traditionellen, südchinesischen Ving Tsun-Kampfsportkunst orientiert.

sagwas: Herr Hering, wer kommt in Ihre Kurse?

Markus Hering: Von Bambinis ab drei Jahren bis hin zu Teens ab zwölf und Erwachsene ab 18 Jahren ist alles dabei. Außerdem unterrichten wir in thematischen Workshops, zum Beispiel im „Wehr Dich!“-Kurs extra für Frauen oder einem Kurs zur „Taktischen Deeskalation“.

Welche Geschichten bringen die jüngeren Teilnehmenden mit?

Unsere Schüler kommen aus den verschiedensten Beweggründen. Bei Kindern sind es oft negative Erfahrungen wie Mobbing. Es ist wichtig, da frühzeitig entgegenzuwirken. Wir versuchen, Jugendliche zu unterstützen, die Erfahrungen mit negativen Gruppendynamiken gemacht haben, die Probleme haben, ihren Selbstwert zu kennen, oder die lernen wollen, sich nicht mehr abhängig von den Meinungen anderer zu machen.

Markus Hering: „Der körperliche Teil ist wichtig. Doch der bedeutendere ist der mentale. Kampf ist eine Kunst.“ (Foto:  Markus Hering Akademie)

Was ist der Hauptbeweggrund bei Erwachsenen?

Bei den Erwachsenen ist es hauptsächlich das Bedürfnis nach Sicherheit, insbesondere bei Teilnehmenden, die schon einmal Erfahrungen mit Hass, psychischer oder physischer Gewalt gemacht haben. Viele kommen auch, um etwas Neues zu lernen, an sich zu arbeiten oder um sich einfach aus gesundheitlichen Gründen mehr zu bewegen.

Was macht einen Selbstverteidigungskurs zum geeigneten Mittel, um mit Gewalt umzugehen?

Menschen, die negative Erfahrungen machen mussten, wollen sich zukünftig davor schützen. Zu viele versuchen, diese Erfahrungen zu verdrängen. Sie bemerken die schleichenden Auswirkungen auf ihr Leben nur selten oder wollen sie nicht wahrhaben. Dadurch verringert sich die Lebensqualität, die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben nimmt ab. Es bilden sich Ängste aus, die später schwer zu kontrollieren sind. Ein Selbstverteidigungskurs ist der erste Schritt, der Situation im Nachhinein mutig zu begegnen und diese sinnvoll zu verarbeiten. Dadurch gewinnt man verlorengegangene persönliche Freiheit zurück.

Gilt das im gleichen Maße für Erwachsene wie Kinder?

Gerade bei Kindern, die gemobbt worden sind, höre ich oft von den Eltern, wie positiv sich das Training ausgewirkt und dass das Mobbing aufgehört hat. Eben weil das betroffene Kind mehr Selbstbewusstsein erlangen und die Situation aktiv für sich klären konnte.

Was ist parallel zum Kurs in einer solchen Situation – nehmen wir das Beispiel Mobbing – wichtig?

Kindern und auch Erwachsenen hilft es im ersten Schritt, sich des eigenen Wertes bewusst zu werden. Sich zu entscheiden, kein Opfer zu sein. Selbstverteidigung beginnt immer bei einem selbst. Die körperlichen Übungen festigen diese mentale Einstellung und verankern sie schließlich in der Persönlichkeit.

Ist diese mentale Ebene der physischen gleichgestellt?

Wir trainieren auf beiden Ebenen. Der körperliche Teil ist wichtig, ohne Frage. Doch der bedeutendere ist der mentale. Von der richtigen Einstellung hängt es ab, einen Kampf entweder zu verhindern oder zu gewinnen – der Kopf ist immer der ausschlaggebende Faktor.

Wie sehen die konkreten Übungen dafür aus?

Das beginnt bei Rollenspielen oder dem Einüben der verschiedenen Ving Tsun-Techniken. Im Ernstfall hat der Betroffene neben seinem Angreifer noch einen unsichtbaren Gegner, mit dem er fertig werden muss: sein Adrenalin. Das erhöht die Atemfrequenz, das Zittern der Muskeln und sorgt für einen Tunnelblick. Unter diesen Bedingungen die nötigen Techniken erfolgreich abzurufen, ist gar nicht so leicht, wie man vielleicht denkt.

Markus Hering: „Wut und Hass sind tatsächlich sehr starke Gefühle, die in einer Selbstverteidigungssituation hilfreich sein können.“ (Foto: Markus Hering Akademie)

In der entsprechenden Übung wird durch bestimmte Techniken der Puls des Schülers hochgefahren. Das Körpergefühl ist dem einer realistischen Kampfsituation ähnlich. Jetzt gilt es, Ruhe zu finden, den Überblick zu behalten und die richtigen technischen Entscheidungen zu treffen.

Muss man Gefühle wie Wut oder sogar Hass zulassen, um kämpfen zu können?

Wut und Hass sind tatsächlich sehr starke Gefühle, die in einer Selbstverteidigungssituation hilfreich sein können, aber nicht müssen. Blinde Wut verleitet zu Fehlern und Hass selbst ist kein Gefühl, das ich in mir entwickeln möchte.

Aber auch wenn diese Gefühle durchaus hilfreich sein können, setze ich in meinem Unterricht eher auf die sogenannte „kalte Wut“. Ein aktives Nach-vorne-Gehen, ein beinahe routiniertes Kontrollieren und Beenden der Situation. Zu den wichtigsten Prinzipien der Selbstverteidigung gehört der Punkt „Selbstbeherrschung”.

Gibt es ein „Ende“ des Kurses – einen Zeitpunkt, an dem das Ziel erreicht ist und man nichts mehr lernen kann?

Ein Ende gibt es insofern, als dass der Schüler seine Ziele erreicht sieht, zum Beispiel mehr Selbstbewusstsein oder das Bestehen in bestimmten Situationen. Auch gewisse körperliche Fertigkeiten können ein Ziel sein. Das Tolle am Ving Tsun ist allerdings, dass die Inhalte und Techniken vielfältig und umfassend sind. Ein Kung Fu-Stil also, der sehr modern ist. Das Lernen hat kein Ende, denn es gibt so viele Möglichkeiten, seine Techniken zu verbessern. Meine eigenen Ziele habe ich auch nach 30 Jahren Ving Tsun noch nicht alle erreicht.

Vielen Dank für das Interview!

5 Antworten auf „„Der Kopf ist ausschlaggebend““

  1. Von Veilchen am 25. März 2022

    Ich wusste nicht,dass Kampfsport so viel mit der Verbindung zwischen Körper und Kopf zu tun hat. Danke für den Artikel.

  2. Von Kryptox am 25. März 2022

    Oft habe ich schön gehört, dass man für die Ausführung von Kampfsport ein bestimmtes Mindset braucht, jedoch war mir die Signifikanz dieses Faktors nicht bewusst. Durch dieses Artikel ist mir dies jetzt klargeworden, danke dafür.

  3. Von KS am 25. März 2022

    Coole Mission von Coach gerade jungen Menschen auf ihrem Weg zu helfen

  4. Von Seesider am 25. März 2022

    Der Kampfsport als Mittel sich im Alltag und der Gesellschaft durchsetzen zu können. Eine coole Maßnahme als Empfehlung!

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