Der Traum eines unabhängigen Katalonien in der EU
Neben Albert Royo Marinés Schreibtisch stehen zwei Flaggen: eine katalanische und eine europäische. Im Interview rechnet der Generalsekretär des diplomatischen Dienstes von Katalonien mit der Politik der spanischen Regierung ab. Er bezeichnet die Katalanen als europäische Föderalisten und sieht nichts, was gegen eine Mitgliedschaft eines unabhängigen Kataloniens in der Europäischen Union spräche. Im Ergebnis der Regionalwahlen vom September sieht er ein klares Mandat, den Weg in die Unabhängigkeit fortzuführen.
Über Twitter ist Albert Royo Mariné, Generalsekretär des diplomatischen Dienstes von Katalonien, auf den Artikel „Spanien und der Separatismus – kein Ende in Sicht“ aufmerksam geworden. In dem Beitrag geht es um die verhärteten Fronten zwischen der spanischen Zentralregierung in Madrid und der katalanischen Regionalregierung in Barcelona, die eine Lösung des schwelenden Konflikts derzeit unmöglich machen. Auch im Interview mit Royo Mariné wird deutlich: Ein Ende des Konflikts ist nicht in Sicht.
sagwas: Herr Royo Mariné, Sie hatten mir geschrieben und mich gebeten, die katalanische Perspektive besser in der Diskussion zu berücksichtigen. Was möchten Sie klarstellen?
Albert Royo Mariné: Die Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien ist kein Resultat der wirtschaftlichen Krise und nicht anti-europäisch. Ganz im Gegenteil: Sie ist eine demokratische und friedliche bottom-up Bewegung, absolut pro-europäisch. Für uns hat Europa immer Demokratie, Menschenrechte, Frieden und Stabilität bedeutet. Die Katalanen denken, dass es einfacher sein sollte, die Interessen Kataloniens in der Europäischen Union zu vertreten. Wir wollen unsere eigene Repräsentation, nicht eine Repräsentation über Madrid.
Identität wird dafür benutzt, sich von einer anderen Gruppe abzugrenzen. Warum streben Sie für ein unabhängiges Katalonien, wenn das Ziel der europäischen Integration ist, Grenzen zu überwinden und als europäische Gemeinschaft zusammen zu wachsen?
Bei dieser Bewegung geht es nicht um klassisch nationalistische Ideale, überhaupt nicht. Es geht darum, zu bestimmen, welche Art Beziehung wir Bürgerinnen und Bürger mit unseren politischen Vertretern und Institutionen haben wollen. Die Bewegung in Katalonien ist eine Bürgerbewegung. Bürgerinnen und Bürger müssen in der Lage sein, über alles mitzuentscheiden, was ihr alltägliches Leben betrifft. Ein eigener Staat ist dafür ein Schlüsselelement.
Sehen Sie da keinen Widerspruch?
Ich sehe keinen Widerspruch zwischen einem Prozess, der politische Entscheidungen näher an die Bürgerinnen und Bürger bringen und gleichzeitig regionale Governance-Strukturen wie die Europäische Union stärken will. Diese Bewegungen hängen zusammen, sie bedingen sich sogar. Viele Entscheidungen können viel effizienter in Brüssel getroffen werden. Auf der anderen Seite müssen die Entscheidungen, die effektiver auf niedrigerer Ebene und näher an den Bürgern getroffen werden können, dort fallen.
Wäre ein föderales Spanien eine Alternative zur Unabhängigkeit?
Ja, absolut! Solange so ein föderales System regionale Besonderheiten der spanischen Regionen berücksichtigen würde. Wir Katalanen kämpfen seit vielen, vielen Jahren dafür, dass Spanien zu einem föderalen Staat wird. Es gibt zwei Probleme: die Unmöglichkeit, Spanien in ein föderales Land zu transformieren, und die Tatsache, dass Spanien sich nicht als das diverse, multiple Land sieht, das es ist. Nach über 40 Jahren haben die Katalanen das realisiert. Deswegen wurde das Streben nach einem föderalen System mit dem Streben nach Unabhängigkeit von Spanien ersetzt.
Bei den Regionalwahlen im September hat die Koalition, die eine Unabhängigkeit befürwortet, 47,7 Prozent der Stimmen erhalten. Wie begründen Sie die Legitimität Ihrer Bewegung, wenn nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung dahinter steht?
Die Parteien, die die Einheit Spaniens befürwortet haben, haben nur 39 Prozent der Stimmen erreicht. Man muss also 48 Prozent mit 39 Prozent vergleichen. Die übrigen 13 Prozent haben sich bisher noch nicht entschieden, ob sie für oder gegen die Unabhängigkeit sind. Man kann sie nicht einfach als Gegner der Unabhängigkeit zählen. Aber wenn wir ehrlich sind, hatten wir nicht das Referendum über die Unabhängigkeit, was wir uns gewünscht haben. Wir hatten nur Regionalwahlen mit dem Charakter eines Referendums. Aber nichtsdestotrotz: Die Befürworter der Unabhängigkeit haben die Wahl gewonnen und auch eine Mehrheit der Stimmen gesichert.
Wie sehen Sie Ihre Beziehung zur spanischen Zentralregierung? Glauben Sie, dass sie sich nach den nationalen Parlamentswahlen ändern könnte?
Ich bin skeptisch. Die beiden großen Parteien Spaniens (PP, PSOE; Anm. d. Red.) verweigern den Menschen in Katalonien nach wie vor, über ihre Zugehörigkeit in einem Referendum zu entscheiden.
Weil es gegen die spanische Verfassung ist.
Nein, das stimmt nicht. Das ist die strikte Interpretation der Partido Popular (PP). Die spanische Verfassung ist auslegbar. Laut einigen unabhängigen Experten verbietet die spanische Verfassung so ein Referendum nicht. Man müsste sie nicht ändern, um Katalonien eine Stimme zu geben. Aber auch wenn wir die Verfassung ändern müssten, dann lass es uns machen. Aus Madrid bekommen wir nur juristische Argumente: „Das geht nicht!“, „Das ist gegen die Verfassung!“ Was soll das? Natürlich geht das.
Wie würden Sie den Austausch mit Madrid beschreiben?
Wir führen keine politische Diskussion. Es gibt keine Gesprächsbereitschaft aus Madrid. Uns erreichen nur negative Nachrichten. Madrid droht uns mit dem Ausschluss aus der EU. Die PP fährt eine sehr aggressive Linie gegen die katalanische Kultur, Identität und Sprache. Und auch die Opposition, die sozialistische PSOE trägt keinen konstruktiven Vorschlag bei. Sie präsentieren nur vage Ideen von einem föderalen Staat. Sie reden von einem Senat, der die Regionen repräsentiert. Aber Spanien ist nicht Deutschland. Spanien besteht aus drei oder vier eigenen Nationen und wir brauchen eine politische Struktur, die diese Realität vernünftig repräsentiert.
Wohin führt das?
Wir haben in Katalonien eine riesige Bewegung mit jährlichen Demonstrationen in Barcelona, die teilweise mehr als zwei Millionen Teilnehmern umfasst. Die Beziehung zwischen Spanien und Katalonien sollte nicht Gegenstand irgendwelcher Richterentscheide hinter verschlossenen Türen sein. Sie sollte die Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger sein. Ihren Willen können wir nur über ein richtiges Unabhängigkeitsreferendum mit einer Frage und zwei klaren Antwortmöglichkeiten herausfinden. Auf Basis solch eines Referendums können wir eine vernünftige politische Diskussion mit Madrid führen.
Das scheint aber derzeit nicht möglich.
Die Bewegung hier ist komplett friedlich, demokratisch, bunt und tolerant. Aber wir müssen dem Risiko einer gewaltvollen Entwicklung entgegenwirken. An sowas möchte ich gar nicht denken. Und das ist unsere Verantwortung. Die Regionalwahlen in Katalonien vor einigen Wochen haben uns ein klares Mandat gegeben. Wir haben keine andere Wahl, als den Willen unserer Bürgerinnen und Bürger zu respektieren. Sonst wächst die Frustration. Das wäre gefährlich.
In Madrid wird der katalanische Regierungschef Arturo Mas als Politikunternehmer bezeichnet, der sich die Unabhängigkeitsbewegung zu Nutzen macht, um politisch zu überleben. Was sagen Sie dazu?
Ich verfolge die Lage seit mehr als fünf Jahren sehr genau (2010 kam Mas an die Macht; Anm. d. Red.). Als Mas die 1,5 Millionen Menschen auf den Straßen Barcelonas sah, die „Unabhängigkeit, Unabhängigkeit“ riefen, musste er als Präsident Kataloniens reagieren. Das ist seine Aufgabe. Er versucht die Stimmen der Bürgerinnen und Bürger in den demokratischen Institutionen zu reflektieren. Die beste Möglichkeit dafür wäre nach wie vor ein Referendum. Es muss eine Antwort aus Madrid kommen. Sie sollten einen positiven Vorschlag, basierend auf politischen Vorschlägen und nicht auf rechtlichen Anschuldigungen, präsentieren.
Viele Gegner der Unabhängigkeit werfen Ihnen vor, dass Sie sich nicht bewusst seien, was für Konsequenzen eine Abspaltung Kataloniens für Ihre Mitgliedschaft in der Europäischen Union hätte. Wie sehen Sie die Chancen eines unabhängigen Kataloniens in der EU?
Die europäischen Verträge sehen nicht vor, wie man mit solch einer Situation umgeht. In der EU gibt es eine Tradition der Pragmatik. Eine katalonische Republik wäre sehr pro-europäisch. Sie würde einen wichtigen Beitrag zum EU-Budget leisten, in etwa so viel wie Dänemark, Griechenland oder Finnland. Wir sind nah am Zentrum Europas. Wir haben mit Barcelona eine Metropole als Hauptstadt, mit einem der größten Häfen am Mittelmeer. Was wäre das Argument, uns aus der EU zu halten?
Sie glauben, ein unabhängiges Katalonien in der EU wäre möglich?
Ich glaube es gäbe einen Weg. Als Teil Spaniens sind wir seit 1986 Mitglied der EU. Wir genießen europäische Bürgerrechte. Wir erfüllen die Acqui Communautaire und die Kopenhagener Kriterien. Ich sehe keinen Vorteil darin, Katalonien aus der EU auszuschließen. In der Vergangenheit hat sich die EU als pragmatisch erwiesen. Die deutsche Wiedervereinigung war dank einer politischen Übereinkunft möglich. Die Rettung Griechenlands war auch nicht vorgesehen. Es scheint so, als bräuchte Europa eine Krise, um zu reagieren. Sobald Katalonien ein eigener Staat ist, hätten wir solch eine Krise. Dann wird Europa reagieren. Es wäre totaler Schwachsinn, Katalonien aus der EU auszuschließen.