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Der Unerschütterliche

Von Nora Große Harmann / 10. Dezember 2015
Foto: Nadine Dietrich

In Leipzig träumt ein Mann von einer besseren Welt. Michael Oertel hat Großes vor: Er baut einen alten Rummelwagen zum „mobilen Kulturbetrieb“ um. Das Gefährt soll Theater, Musik und Literatur in die ländlichen Regionen Sachsens bringen – und Flüchtlingen eine berufliche Perspektive bieten.

Michael Oertel ist ein Mann, der nicht aufgibt. Ein Mann, der die Dinge positiv sieht. Sogar seinen Schlafstörungen kann er etwas abgewinnen: „Ich habe mehr Zeit, und ich schaffe mehr.“ Oertels Mission ist, die Welt ein kleines Stückchen besser zu machen. Wenn er schon nicht das Klima retten, die Finanzkrise stoppen oder den Krieg in Syrien beenden kann, dann kann er doch zumindest dort etwas tun, wo er zu Hause ist: in Sachsen.

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Ein Mann, ein Wagen, eine Idee. (Foto: Nadine Dietrich)

Deshalb ist der 48 Jahre alte Oertel ständig auf Achse. Er liest Kindern im Krankenhaus Geschichten vor, fährt mit behinderten Menschen Tandem und hilft psychisch Kranken beim Wiedereinstieg in den Beruf. Alles ehrenamtlich, versteht sich. 2002 haben er und sein Freund Robert Götze den Verein Mehrweg in Leipzig gegründet. Dessen Ziel ist, Menschen in ihrem Alltag zu unterstützen, und das unabhängig von Alter, Aussehen, Herkunft oder Geschlecht. 

Konfrontative Integration“

Oertel hat seit Kurzem ein neues Projekt. Es heißt „Plattform“ und ist ein 24 Quadratmeter großer, alter Rummelwagen. Dieser steht leicht versteckt zwischen Bäumen und Sträuchern auf dem Gelände des Vereins, das Völkerschlachtdenkmal ist direkt gegenüber.

Götze hatte den Wagen vor Jahren gekauft, für sich, als „Wohnung auf Rädern“. Doch dann zog er in ein Bauernhaus, der Wagen stand leer. Die beiden Männer hatten die Idee, dass der Wagen als eine Art „mobiler Kulturbetrieb“ genutzt werden könnte. Musiker, Schriftsteller und Theaterschauspieler fahren mit ihrer Kunst auf das Land, dorthin, wo Jugendclubs seit Jahren geschlossen sind, und wo es kaum noch kulturelle oder bildungspolitische Angebote gibt.

Drei Jahre haben wir am Wagen herumgefrickelt, Konzepte entworfen, überlegt, wie wir das Projekt realisieren können“, erzählt Oertel. Dann kam die Flüchtlingswelle und mit ihr Idee Nummer Zwei: Die „Plattform“ als Arbeitsplatz für geflüchtete Menschen. Flüchtlinge könnten den Wagen samt Oldtimer-LKW fahren und die Künstler auf ihren Touren begleiten. Zwanzig Stunden pro Woche, ein Jahr lang, mit Arbeitsvertrag.

Oertel nennt das „konfrontative Integration“. „Die Menschen, die montags zur Pegida gehen und gegen Flüchtlingsheime demonstrieren, kommen meist aus Städten und Gemeinden, in denen es so gut wie keine Ausländer gibt“, erklärt er. „Wenn wir in ihre Dörfer kommen mit unserem Wagen, und sie sehen, dass die Geflüchteten Menschen wie du und ich sind – vielleicht ändert sich dann etwas in ihren Köpfen.“ Oertel hat es satt, sich ohnmächtig zu fühlen. Kriegsmeldungen, Flüchtlingskrise, Fremdenfeindlichkeit: „All das treibt mich an, Dinge selbst in die Hand zu nehmen.“

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Via Crowdfunding soll die „Plattform“ ins Rollen gebracht werden. (Foto: Nadine Dietrich)

Steter Tropfen höhlt den Stein

Man könnte diesem Mann, der neben seinen ehrenamtlichen Tätigkeiten als Sozialpädagoge an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig arbeitet und nebenbei auch noch schreibt und fotografiert, naiven Idealismus unterstellen.

Sein Engagement sei doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein, bekommt er oft zu hören. Dass er sich viel vorgenommen hat, weiß Oertel. „Aber ich sage solchen Zweiflern immer: Steter Tropfen höhlt den Stein.“

Bis Oertels Traum Wirklichkeit wird, muss er noch so manchen Stolperstein aus dem Weg räumen. Noch vor drei Jahren sah der Rummelwagen aus, als würde er bald auseinanderfallen. Das Dach war undicht, die Stahlkonstruktion von Rost überzogen, das Holz morsch durch Wind und Wetter. „Das war ein einziges Wrack“, erinnert Oertel sich.

Peu à peu haben er, Robert Götze und ein paar Helfer den Wagen saniert, Einzelteile ausgetauscht, die Wände in frischem Blau gestrichen, solide Fenster eingebaut. „Nur neue Reifen, die bräuchten wir noch“, sagt Oertel. „Und eine Zweikreisbremsanlage, das wäre schön.“

Geld durch Crowdfunding

Es fehlt an Geld, auch für die Bezahlung der Flüchtlinge. Im vergangenen Jahr habe er gefühlt hundert Stiftungsanträge ausgefüllt, Telefondrähte heiß geredet, bei potenziellen Sponsoren sein Projekt vorgestellt, so Oertel. „Aber als so kleiner Verein an öffentliche Gelder zu kommen, ist schwierig.“

Eine Crowdfunding-Kampagne soll’s nun richten. Mit Hilfe einer Gruppe von Medienmanagement-Studenten der Hochschule Mittweida wurde ein Werbevideo gedreht, ein Konzept geschrieben, Spendergeschenke ausgedacht. Insgesamt müssen 27.600 Euro zusammenkommen. „Die Summe brauchen wir, um zwei Flüchtlinge ein Jahr lang bezahlen zu können“, so Oertel.

Bisher sieht es nicht so rosig aus. Seit dem Start der Kampagne am 31. Oktober sind nur knapp 3.000 Euro zusammengekommen. „Viele Menschen finden unser Projekt toll. Ein mobiler Kulturbetrieb, unbürokratische Arbeitsplätze für Flüchtlinge – das klingt doch super! Aber dass jemand dafür in die Tasche greift, ist dann doch eher die Ausnahme.“ Oertel vermutet, dass das auch an den unzähligen anderen Projekten auf den Funding-Webseiten liegt. „Jeder macht heutzutage Crowdfunding.“

Bis zum 13. Dezember kann noch gespendet werden. Wenn die nötige Summe nicht erreicht wird, soll der Rummelwagen trotzdem rollen, allerdings dann ohne Flüchtlinge. „Wir machen weiter, irgendwie.“

Link zur Startnext-Seite des „Plattform“-Projekts:

https://www.startnext.com/mehrweg

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