Die digitale Szene in analog
Wer sich einen Eindruck von der deutschen Hackerszene machen möchte, kann zum jährlichen Chaos Communication Congress nach Hamburg fahren. Dort zeigt sich eine vielfältige Community, die sich an vielen Stellen öffnet und die an manchen noch etwas Arbeit vor sich hat.
Die Anthropologin Gabriella Coleman beschreibt Hackerkonferenzen als intensive Tage, an denen alle Aufmerksamkeit der Gegenwart gilt. „In der reinen Intensität steckt unglaubliches Potenzial – das ist Leben mit einer fiebrigen Geschwindigkeit, in dem die Freiheit, sich auszudrücken, Aktion, Interaktion und Lachen regieren.” In Deutschland gibt es wohl keine größere Veranstaltung dieser Art als den Chaos Communication Congress (kurz: C3), der jedes Jahr zwischen Weihnachten und Silvester in Hamburg stattfindet.
Seit Jahren bietet das Event ein Bild der Hackerszene in Deutschland und denen in Frankreich, den Niederlanden und den USA. Diese Szenen haben wenig mit Männer in schwarzen Hoodies und Sonnenbrillen zu tun, die immer wieder in Symbolbildern auftauchen.
Das Kongresszentrum in Hamburg wird zwischen den Jahren zu einer Art Spielplatz für Erwachsene. In der Eingangshalle werden die Besucher von einer großen Anzeigetafel und farbwechselnden Lichtinstallationen empfangen. Wer sich weiter in das Gebäude vorwagt, läuft durch einen rot-grün beleuchteten Gang, der nach Raumschiff aussieht und in einer riesigen Halle mit Tischen und – man ahnt es – noch mehr farbigen Lichtern endet. Es gibt ein Bällebad, den Nachbau einer Zeitmaschine, die wie eine blaue Telefonzelle aussieht, und ein selbstgebautes Rohrpostsystem aus gelben Rohren, durch das in regelmäßigen Abständen pfeifende, blinkende Flaschen geschickt werden.
Eine Party und ein Familientreffen
Für manche ist der C3 eine große Party, für andere ein Familientreffen, bei dem man Bekannte und Freunde aus dem Netz wiedersieht und neue Menschen kennenlernt. Wieder andere Besucher kommen vor allem wegen der Konferenz selbst, für die Vorträge über Kunst, Politik, Aktivismus und natürlich Technik.
Einer, der den C3 in seinen verschiedensten Facetten schon seit Jahren erlebt, ist Tim Pritlove. Der Podcaster war auf dem allerersten Kongress 1984 im Eidelstätter Bürgerhaus in Hamburg nur für einen Nachmittag dabei, Ende der 1990er Jahre in Berlin organisierte er ihn selbst mit. Besonders stolz ist er darauf, dass der C3 nicht von oben herab organisiert, sondern nur vorbereitet wird. Wenn am ersten Tag alle ankommen, gilt es, selbst mitzuhelfen und hinter der Bar, einer Videokamera, bei der Einlasskontrolle oder durch Ansagen bei Vorträgen zu helfen. „Der Kongress wird vorbereitet, nicht fertig gemacht. Er ist nichts, was man einfach konsumiert – die Leute kommen an, wissen, was zu tun ist, und machen selber mit“, so Pritlove.
Einfach machen, weil man kann, coole Dinge ausprobieren, von anderen lernen, anderen etwas beibringen – dieses Erlebnis möchte auch Fiona Krakenbürger an Besucher weitergeben, die zum ersten Mal dabei sind. Bei ihrem ersten Besuch des C3 hat sie sich selbst nicht durch die Tür getraut. „Ich stand draußen, habe mich dann aber wieder umgedreht und bin weggegangen”, so Krakenbürger. Sie habe das diffuse Gefühl gehabt, nicht dazuzugehören.
Seit 2013 arbeitet sie mit den Chaospaten daran, Menschen mit solchen Ängsten zu helfen, sich auf dem gigantischen Event zurechtzufinden. Patenkinder werden in Vierergruppen mit ähnlichen Interessen eingeteilt und bekommen am ersten Tag von ihren jeweiligen Chaospaten eine kleine Einführung. Die Arbeit der Paten besteht zum Teil darin, den Neulingen während des Kongresses einen Ankerpunkt zu geben, teils aber auch im Kontakt vor dem Event. „Wir sagen den Leuten, dass sie auf jeden Fall willkommen sind, ob als Hacker oder Nicht-Hacker. Oft bekomme ich Mails gerade von jungen Frauen, die sagen, sie wären ohne uns nicht gekommen”, berichtet Krakenbürger. Die Patenkinder, denen so Mut gemacht wird, kommen aus den verschiedensten Richtungen: Sie sind Biochemiker, Väter, weiblich, jung, männlich, autistisch, alt, Pärchen. Für Krakenbürger macht diese Vielfalt sowohl die Szene als auch den Kongress aus: „Letztendlich gibt es jedes Jahr so viele verschiedene Kongresse wie Besucher.“
Auch Organisator Tim Pritlove betont, wie wichtig ihm die Diversität der Community ist. „Für mich war die größte Bedrohung für den Kongress, dass er nicht mehr wachsen konnte.” Mit der Verbreitung von Computern und Smartphones sei es ganz natürlich, dass auch das Interesse an den Themen des C3 größer werde.
Der Wille, sich für neue Gesichter und Menschen zu öffnen, ist da. Es gibt finanzielle Unterstützung für Besucher, die sich den vergleichsweise niedrigen Ticketpreis nicht leisten können, die Chaospaten werden von allen Seiten gelobt, und auch die Partys sind mit den Jahren immer besser geworden – nicht zuletzt dank der Beteiligung von Menschen aus anderen Szenen. Zu erzählen gibt es viel: Geschichten von Sicherheitslücken in App-basierten TAN-Verfahren, einer Suchmaschine für Mitarbeiter verschiedener Geheimdienste und dem aktuellen Stand des Tor-Projektes, mit dem Internetnutzer sich anonym im Netz bewegen können.
Vielleicht sind doch nicht alle gleich
Eine weitere Öffnung des Events ist dennoch dringend nötig. Eine Sprecherin, die zum ersten Mal dabei ist, fragt verwundert: „Bin ich eigentlich die einzige Frau, die hier spricht?“ Eine Zählung im Dezember kam auf nur 15 Prozent Frauen unter insgesamt fast 190 Vortragenden. Das spiegelt allerdings auch die niedrigen Frauenquoten in Fachgebieten wie Informatik wider, die auf dem Kongress traditionell stark vertreten sind.
Andere traditionell starke Themen sind eher politischer Natur, beispielsweise Datenschutz oder Copyright. Im Chaos Computer Club (CCC) stehen diese aktuellen Schlagworte schon seit 1981 auf der Agenda. Damals setzte Wau Holland, ein Urgestein der Szene, in der Tageszeitung taz eine Anzeige auf, um mit anderen Komputerfrieks, wie er sie nannte, „wat zu tun“ und zu reden. Über Netzwerke, darüber, wem Daten gehören, über Copyright und Verschlüsselung – alles Themen, die jetzt erst im Mainstream ankommen.
Ihrer Vorreiterrolle sind sich auch viele auf dem Kongress bewusst, und dieses Bewusstsein klingt auch in Vorträgen durch, bei denen dann über Politikerzitate zu Technikthemen oder die neuesten Sicherheits-Faux-Pas gelacht wird. Dieses „told you so“-Motiv taucht immer wieder auf, halb ironisch, halb ernst gemeint. Überwachung, Datensicherheit, Verschlüsselung – wir haben es doch gewusst.
Hätten die anderen das nicht auch wissen können? Die freie Beraterin und Netzwerkforscherin Yasmina Banaszcuk weist darauf hin, dass viele CCC-Leute vor allem aus dem bürgerlichen Milieu stammen müssten. Wer schon so lange mit Technik und eigenen Computern herumspielen konnte, müsse bürgerlich sein, denn Anfang der 1990er Jahre besaß erst ein Fünftel aller deutschen Haushalte Computer, tendenziell die bessergestellten.
Auf dem C3 wird immer wieder betont, dass alle gleich seien und mitmachen könnten – aber kulturellen und gesellschaftlichen Ungleichheiten kann auch die bunt-blinkende Blase nicht entgehen. „Generell erinnert mich viel in der Szene an traditionell bürgerliche Milieus, die bemüht sind, nicht so zu wirken“, kommentiert Yasmina Banaszcuk.
Eine Gemeinschaft ohne Papierwände?
Auch eine Community, die sich zu öffnen versucht, hat zwangsläufig eigene Rituale und Codes, Insiderwitze und Berühmtheiten – irgendwie muss sie sich definieren. Bei dem Vortrag von Wissenschaftler Joscha Bach über künstliche Intelligenz kann man einen Eindruck bekommen, wie das funktioniert. Die meisten anderen Menschen würden sich an soziale Normen halten, so Bach. „Sie einigen sich darauf, dass etwas eine Wand ist, obwohl es eigentlich Papier ist, und behandeln es dann wie eine Wand – den Nerd aber verwirrt das. Warum gehen die Leute um Papier herum?” An dieser Stelle lacht der Saal. Der Blogger Michael Seemann kommentiert die Szene später trocken in einem Text: „Der Nerd ist eine Geschichte, die der Nerd sich auf Kongressen selbst erzählt.“
So eine Geschichte braucht jede Gemeinschaft – wie sind wir, wie sind die anderen? Der 32. Chaos Communication Congress zeigt, dass es um dieses Anderssein und den Stolz darauf geht. Die Teilnehmer definieren sich als nicht-kommerziell, offen, inklusiv, anders, ein Gemeinschaft, in der man voneinander lernt und in der zählt, was Menschen machen, und nicht, wer sie sind. Aber wie Fiona Krakenbürger sagt: Die Geschichte des Kongresses ist für jeden Besucher eine andere – und die der Community für jedes ihrer Mitglieder.