„Die Obergrenze führt zu einer Katastrophe“
Die Obergrenze steht: Maximal 37.500 Asylbewerber will Österreich in diesem Jahr aufnehmen. Christoph Riedl, Geschäftsführer des Diakonie Flüchtlingsdienstes in Wien, sieht darin ein fatales Signal.
Herr Riedl, was bedeutet der Obergrenzen-Beschluss der österreichischen Regierung für die Flüchtlingshilfe?
Er sorgt für große Verunsicherung. Wer eine Unterkunft betreibt, trägt das volle unternehmerische Risiko. Neben den hohen Investitionskosten sind es auch die etwaigen Mietverhältnisse, die geklärt sein müssen. Eine gute und vor allem längerfristige Planung ist daher notwendig. Weil aber nicht wirklich bekannt ist, was mit dem Asylbewerber Nummer 37.501 in diesem Jahr passiert, lähmt das die Vorbereitungen, was angesichts der zu erwartenden Aufgaben ein Desaster ist.
Wie viele Flüchtlinge erwarten Sie denn in diesem Jahr?
Sobald es wärmer wird, setzt der große Run ein. Damit ist fest zu rechnen. Derzeit befinden sich allein in der Grundversorgung, also der Phase von der Asylantragstellung bis zur Entscheidung, 82.000 Menschen. 2014 waren es noch 30.000. Für 2016 rechnen wir bislang mit rund 120.000 Asylsuchenden.
Die Obergrenze ist höchst umstritten. Der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann will sie nun sogar nur als einen Richtwert verstanden wissen. Bleibt es womöglich bei der Ankündigung und die Obergrenze wird gar nicht umgesetzt?
Das ist die Frage. Allein juristisch gesehen ist die Zurückweisung eines Asylsuchenden schon an der Grenze und ohne ordentliches Asylverfahren einfach undenkbar und verstößt gegen das internationale Flüchtlingsrecht sowie die Menschenrechte. Ex-Kanzler Franz Vranitzky kommentierte in Richtung der Regierung treffend, es sei entweder Rechtsbruch oder Wortbruch. Die Obergrenze ist vor allem aber eine große Illusion: Menschen, die vor Tod und Zerstörung fliehen, machen nicht an einem Zaun halt.
Wie ist die Haltung der Bevölkerung gegenüber den Flüchtlingen?
Die Stimmung beginnt allmählich zu kippen. Es gibt immer noch viele positive Kräfte, insbesondere auf kommunaler Ebene, doch die Flüchtlingshilfe wird weitaus schwieriger. Notquartiere drohen Grundversorgungsstandards zu werden. Was schade ist, haben wir doch gerade erst eine Art österreichisches Sommermärchen erlebt: Menschen am Bahnhof, die ankommenden Flüchtlingen zujubeln. Dieses Bild wird nun leider zerstört – nicht nur durch die Obergrenze.
Durch was denn noch?
Die Ende Januar beschlossene Asylgesetznovelle verschärft die Situation noch. Die Wartezeit für den Familiennachzug, also für subsidiär Schutzberechtigte, wurde von einem auf drei Jahre erhöht, was vor allem unbegleitete minderjährige Flüchtlinge stark treffen wird. Anerkannte Flüchtlinge müssen nun innerhalb von drei Monaten den Antrag auf Familienzusammenführung stellen. Viele Familien wissen gar nicht, wo ihre Angehörigen sind. Andere bekommen keine oder nicht rechtzeitig Termine in den jeweiligen österreichischen Botschaften. In der Folge werden sich nun statt eines Einzelnen, der vorgeschickt wird, erst recht gleich ganze Familien auf den Weg machen, was für die Familien ein unglaublicher Kraftakt ist und die Länder in nicht ausreichendem Maße vorbereitet trifft.
Die ÖVP will Österreich mit der Obergrenze angeblich vor einer ausufernden „Extremsituation“ bewahren. Sind „Extremsituationen“ eine reale Gefahr?
Es gibt nachweislich keine negativen Folgen bei der Versorgung und Unterbringung auch größerer Flüchtlingszahlen. Das WIFO (Anm. der Red.: Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung, der größte Thinktank des Landes) geht sogar davon aus, dass die Wirtschaft selbst im schlimmsten denkbaren Szenario um 0,4 Prozent wachsen würde (Anm. der Red.: Das Institut stützt sich nach eigenen Angaben auf die Ergebnisse einer DIW-Studie, die auf Österreich anwendbar seien). Flüchtlinge sind vor allem für kleine Gemeinden eine große Chance.
Inwiefern sind Flüchtlinge für kleine Gemeinden eine Chance?
Für kleinere Orte, in denen Infrastrukturen zusammenbrechen, Lokale schließen und das Leben in der Gemeinschaft kaum noch existiert, sind Flüchtlinge ein wichtiger Impuls. Die gemeinsame Aufgabe verbindet die Menschen wieder. Ich habe Bürgerversammlungen erlebt, die so gut besucht waren, dass Hunderte stehen mussten. Mitunter musste man die Flüchtlinge fast vor ehrenamtlichem Überengagement schützen.
Wie sieht die Beteiligung in den Städten aus?
Insbesondere die Wiener haben Großartiges geleistet. Als das Erstaufnahmesystem komplett zusammengebrochen ist, hat das Innenministerium die Flüchtlinge einfach auf die Straße gestellt. Die Wiener Bürger haben die Geflüchteten daraufhin in großem Stil auf eigene Faust versorgt und damit die staatliche Inkompetenz aufgefangen. Das ist so oder so ähnlich aber nicht nur in der Hauptstadt passiert, sondern im ganzen Land.
Welche Folgen hätte eine strikte Einhaltung der Obergrenze für Deutschland und die EU?
Wenn es wirklich zur Grenzschließung kommt, rechne ich mit einer fatalen Kettenreaktion. Dann würden auch andere Länder intensiver über eine Limitierung nachdenken und mit Österreich gleichziehen. Das ganze Friedensprojekt Europäische Union wäre gescheitert. Wir wissen alle, was passiert, wenn man in einem Druckkessel das Ventil schließt. Wenn Menschen weiter flüchten müssen, führt die Obergrenze unweigerlich zu einer Katastrophe. Es braucht gerade jetzt nicht weniger Europa, sondern mehr Europa.
Wie könnte das aussehen?
Mir fehlen die eindeutigen Willensbekundungen, die Herausforderung gemeinsam anzugehen. Die Bewältigung der Flüchtlingsproblematik ist aus wirtschaftlicher Sicht machbar, scheitert aber an nationalen Egoismen. Auch braucht es einen solidarischen Verteilungsmechanismus – mit Konsequenzen bei Nichteinhaltung. So müsste die Europäische Kommission unter anderem gegen Ungarn vorgehen, das Fördergelder bekommt, aber kein Flüchtlingslager einrichtet. Längerfristig darf eine europäische Asylbehörde mit europäischen Beamten keine Vision bleiben. Dann kann Griechenland unter Umständen für die Erstregistrierung verantwortlich sein, wenn danach eine für alle sinnvolle Weiterverteilung erfolgt.
Der Diakonie Flüchtlingsdienst setzt sich in Österreich mit 500 hauptamtlichen Mitarbeitern für die Unterbringung von Asylbewerbern ein, berät in rechtlichen Fragen, leistet psychotherapeutische Hilfe und kümmert sich um minderjährige Flüchtlinge. Gemeinsam mit anderen NGOs wie der Caritas leistet der Diakonie Flüchtlingsdienst den Großteil der Flüchtlingsarbeit in der Alpenrepublik.