Die Textilbranche nach Rana Plaza
Am 24. April 2013 blickte die ganze Welt nach Bangladesch. Die Ruinen des eingestürzten Firmenkomplexes Rana Plaza wurden zum unleugbaren Symbol der lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen in den Zuliefererbetrieben großer Modemarken. Was hat sich seitdem getan?
Sie wussten es. Die Risse in dem achtstöckigen Fabrikgebäude Rana Plaza in der Stadt Sabhar waren offensichtlich. Dennoch überließen die Manager die Textilarbeiter und Textilarbeiterinnen ihrem Schicksal. Die Arbeit musste weitergehen. Für die großen Kunden aus dem Westen, die den Verlauf der Nähte ebenso diktierten wie den der Preise. Die Nähmaschinen ratterten täglich unermüdlich, bis es krachte. Bis auf einmal Trümmer die Arbeiter und Arbeiterinnen unter sich begruben. Bis Geschrei und Tod den Ort erfüllte. Und die Katastrophe in der 25 Kilometer nordöstlich von Dhaka liegenden Stadt weltweit zur ersten Schlagzeile sämtlicher TV-Sender wurde. Serviert im Bildschirmformat.
In Kauf genommene Katastrophe
Während des Einsturzes arbeiteten wohl 5.000 Menschen im Gebäude, über 1.000 von ihnen verloren dabei ihr Leben. Auch für die Familien der Näher und Näherinnen hat sich seit diesem Tag vor sieben Jahren alles verändert. Viele von ihnen sind in absolute Armut gestürzt, als auf einmal das familiäre Haupteinkommen wegbrach. Versichert gegen Arbeitsunfälle war ohnehin niemand. Zwar zwang der mediale Widerhall die betroffenen Textilunternehmen, die im Rana Plaza ihre Modekollektionen fertigen ließen, einen Entschädigungsfonds einzurichten. Insgesamt 30 Millionen US-Dollar kamen zusammen. Außerdem unterzeichneten nur einen Monat nach der Katastrophe über 200 Textilunternehmen ein Abkommen über Brandschutz und Gebäudesicherheit, den sogenannten „Bangladesh Accord“, eine Verpflichtung, die zu verschärften Inspektionen beitrug. Tatsächlich wurden im Nachgang Werkstätten wegen Sicherheitsmängel geschlossen. Eine wesentliche Verbesserung der Entlohnungssituation trat allerdings nicht ein.
Der Textilhandel – ein Deal nur mit Gewinnern?
Laut Netz Bangladesch, einem gemeinnützigen Verein aus Wetzlar, arbeiten in dem bevölkerungsreichen Land alleine in der Textilbranche circa vier Millionen Menschen. Überwiegend junge Frauen, für die ein schlechtbezahlter Job in der Branche besser als keiner ist. Zu groß die Not in einem Land, das mitunter die niedrigsten Lohnkosten weltweit aufweist. Profiteure dieses Umstands sind vor allem einflussreiche Modeunternehmen, die hier ihre Kollektionen fertigen lassen. Der Deal zwischen bekannten, westlichen Marken (auch deutsche wie KiK) und armen, hilfsbedürftigen Ländern wie Bangladesch ist denkbar einfach: Die Modefirmen können durch Subunternehmen vor Ort die Produktionskosten massiv drücken. Und nicht nur die Löhne sind niedrig, sondern auch die Umweltstandards. Dafür profitieren die Produktionsländer durch die Schaffung von Arbeitsplätzen und Devisenzuflüssen. Dass die Näher und Näherinnen unter solchen Handelsbedingungen mitunter nicht von ihrem Lohn leben können, wird in Kauf genommen. Sollten die Lohnkosten steigen, besteht die Gefahr, dass die Auftraggeber in das nächstgünstigere Land abwandern. Diese Logik ist 2020 dieselbe wie 2013. Nur, dass dieses Jahr Corona hinzukommt.
Gemäß den Zahlen des Umweltbundesamts stammen 90 Prozent der in Deutschland gekauften Kleidung aus dem Import, genauer aus China, Bangladesch und der Türkei. Im fernen Ausland wird jedoch nur produziert, Konzeptionierung und Vermarktung erfolgen im Heimatland. Der Großteil der Marge bleibt hierbei nicht im Produktionsland hängen, sondern bei den Modemarken und dem Einzelhandel. Allein die deutsche Textil- und Modeindustrie setzt laut dem Interessenverband textil + mode jährlich so 32 Milliarden Euro um.
Lediglich ein paar Cents für die Näherinnen
Fairtrade Deutschland hat errechnet, dass bei dem Kauf eines Marken-Shirts im Wert von 29 Euro der Lohnanteil lediglich bei umgerechnet 0,18 Euro liegt. An den Einzelhandel gehen dagegen stattliche 17 Euro. Den zweitgrößten Posten macht der Gewinn der Modemarken aus in Höhe von 3,61 Euro. Mit dem restlichen eingenommenen Geld werden Transport- und andere Kosten getilgt. Sicherlich handelt es sich bei dieser Berechnung nur um eine Beispielkalkulation, die sich nicht verallgemeinern lässt. Fakt ist allerdings, dass die Lohnkosten nur für einen Bruchteil des Preises im Einzelhandel verantwortlich sind.
Die wahren Kosten in der Textilproduktion liegen wesentlich höher, als es das Preisschild in den Modefilialen je auszeichnen könnte. Abgesehen von den fragwürdigen, menschenverachtenden Arbeitsbedingungen und der dauerhaft prekären Lohnsituation sind die Umweltschäden, die entstehen, enorm. Laut Greenpeace sind zwei Drittel aller Flüsse in China verschmutzt. Schuld tragen überwiegend die Textilfabriken, die giftige Abwässer ins Gewässer leiten. Das lässt vor allem eine Erkenntnis zu: Für das Wachstum des größten Textilexporteurs der Welt wird schamlos die Umwelt geopfert. Ob Wasserverschmutzung bei der Waschung von schadstoffbelasteten Textilien, gesundheitsgefährdender Einsatz von Pestiziden beim Baumwollanbau oder Nähen zum Hungerlohn: All dies sind globale Kosten, die uns alle angehen.
Corona als Katalysator des Elends
Aber was, wenn selbst der Hungerlohn wegfällt? Die Corona-Krise hat die Situation für die Arbeiter und Arbeiterinnen in der Textilindustrie erst recht verschlimmert. Milliardenaufträge wurden storniert. Während die Schließung zahlreicher Läden vergnügliches Shopping im Geschäft hierzulande unmöglich machte, bedeutete das für die weit entfernten Näher und Näherinnen akuten Lohnentfall und erneute Existenznot. Auch wenn sich die Textilwirtschaft weltweit wieder etwas erholt hat, die Abhängigkeit von der Nachfrage der Modeunternehmen bleibt hoch und die Corona-Krise ist noch lange nicht vorbei.