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Die Wahrheiten der Migrationsdebatte

Von Dr. Chadi Bahouth / 6. Oktober 2015
picture alliance/EPA | SASCHA STEINBACH

Obwohl die Migrationsdebatte ihrer Natur nach ständig in Bewegung ist, gibt es in ihr einige Wahrheiten, die wissenschaftlich unstrittig sind.

Dieser Beitrag ist eine Gegendarstellung zu David Frums Artikel „Die Unwahrheiten der Migrationsdebatte“. Frum kommt aus einem wirtschaftsfreundlichen Umfeld, er ist Mitglied des britischen rechtskonservativ-neoliberalen Think Tanks Policy Exchange. Er bedient in seinem Artikel die populistische Schiene, ist ungenau mit der verwendeten Terminologie, präsentiert Zahlen und Statistiken selektiv und kreiert durch Verallgemeinerungen eine Stimmung der Angst. Für ihn ist die Migrationsdebatte eine Frage des „Wir gegen sie“.

Seine Unkorrektheiten ziehen sich durch den gesamten IPG-Artikel. Gleich zu Beginn macht er deutlich, wohin die Reise geht. Er schreibt von „Hunderttausenden“, die nur darauf warteten, „nach Europa überzusetzen“; „Millionen“ Afrikaner und „Migranten aus dem Nahen Osten […] würden es ihnen gleichtun, wenn sie könnten“. Europa wird als Sehnsuchtsort Nummer eins gekennzeichnet; die Flüchtlinge als Menschen, die eigentlich noch andere Optionen außer der Flucht hätten.

Grundsätzlich gilt zudem zu unterscheiden zwischen Flüchtlingen, denen das Recht auf Asyl zusteht, und solchen, die aus anderen Gründen fliehen oder migrieren, also Migranten. Amnesty International Australien hat sich dem Appell von Al Jazeera angeschlossen und sich mit einem Aufruf an Medienvertreter gewandt, zwischen „Migranten“ und „Flüchtlingen“ zu unterscheiden und dabei vor Unkorrektheit im Umgang mit Sprache gewarnt.

Viele fliehen innerhalb des eigenen Landes

Jedes Jahr wandern tatsächlich hunderttausende Menschen nach Deutschland ein; 2014 etwa 667.000. Was Frum jedoch verschweigt, ist, dass dies zum Teil normale Migrationsströme sind und dass nur ein Bruchteil dieser Menschen in Deutschland Asyl beantragt.

Denn die Zahlen zeigen, wie stark Frum die Realitäten verzerrt. Zur Zeit sind global 59,5 Millionen Menschen auf der Flucht, die höchste Zahl, die das UNHCR jemals zählte. Der Großteil von ihnen, 38,2 Millionen, verbleibt als Binnenflüchtlinge im eigenen Land. 19,5 Millionen fliehen über Grenzen hinweg, 1,8 Millionen beantragen Asyl, davon 627.000 in Gesamteuropa und 203.000 in Deutschland. Allein 2014 wurden weltweit 13,9 Millionen Menschen neu vertrieben.

Die meisten Menschen wollen dabei überhaupt nicht fliehen. Ein syrischer Junge bringt es in einem Interview mit Al Jazeera America auf den Punkt: „Just stop the war in Syria and we don’t want to go to Europe. Just stop the war. Just that.“

Seit Ausbruch des Syrienkrieges sind knapp 12 Millionen Menschen auf der Flucht. In Syrien selbst sind es 7,6 Millionen Binnenflüchtlinge, mehr als 4 Millionen Menschen sind in die Nachbarländer geflohen.[1] 270.000 Syrer haben Asylanträge in Europa gestellt, also lediglich 2,25 Prozent aller geflohenen Syrer. Zum Vergleich: Der Libanon hat 25 Prozent aller Geflohenen aus Syrien aufgenommen, einige Quellen sprechen sogar von knapp 50 Prozent der Geflohenen, also zwei Millionen – bei einer Bevölkerung von gerade einmal vier Millionen.

2014 sind 69.500 syrische Flüchtlinge in Deutschland eingereist. Seit Beginn der Krise werden keine Flüchtlinge mehr nach Syrien abgeschoben. Dieser Umstand ließ den Kabarettisten Max Uthoff fragen: „Wenn wir die Syrer eh alle anerkennen, warum lassen wir sie dann im Mittelmeer ersaufen und schaffen nicht sichere Fluchtrouten nach Europa?!“[2]

Von den Flüchtlingen, die ihr Heimatland verlassen, machen sich nur sehr wenige auf den gefährlichen und kostspieligen Weg nach Europa. Einer der Gründe dafür liegt in der sogenannten Drittstaatenregelung. Ein Asylbewerber, der aus einem „sicheren Herkunftsstaat“ einreist, muss dort seinen Antrag stellen. Deutschland ist umgeben von sicheren Drittstaaten. Bis vor wenigen Wochen war die Einreise nach Deutschland legal nur dann möglich, wenn sie mit dem Flugzeug gelang. Fluggesellschaften, die Flüchtende ohne gültiges Visum mitreisen lassen, riskieren jedoch staatliche Sanktionen. Die Dublin-III-Verordnung ist inzwischen temporär von Deutschland für syrische Flüchtlinge aufgehoben worden.[3]

Europäische Werte stehen auf dem Spiel

Rechte Kräfte behaupten gerne, Deutschland werde überschwemmt von einem Heer Asylsuchender. Rechtskonservative zeichnen Schreckensszenarien und warnen vor „Demagogen“, dabei beliefern sie jene mit dem, was sie benötigen: der Angst vor der vermeintlichen „Überfremdung“.

Ihnen geht es nicht um die Migrationszahlen, sondern darum, zu entscheiden, wer migrieren darf und wer nicht. Hunderttausende Franzosen, Amerikaner oder Japaner: kein Problem. Afrikaner und Araber: auf keinen Fall aufnehmen. Erst kommt die „Dämonisierung [als …] das ideologische Fundament einer ungleichen Gesellschaft und dann erwächst aus der Ungleichheit basierend auf Merkmalen wie Ethnie oder Religionszugehörigkeit Rassismus. Nicht weniger als die Werte eines aufgeklärten, demokratischen und rechtsstaatlichen Europas stehen derzeit auf dem Spiel.

Das zeigt zum Beispiel die Schweizer Gemeinde Oberwil-Lieli, die Geldstrafen im fünfstelligen Bereich dafür zahlt, dass sie keine Asylbewerber aufnimmt. Jeder zehnte Einwohner ist Millionär, deshalb kann man es sich auf lange Zeit leisten, das Dorf freizuhalten von „Schmarotzern“ und „Parasiten“.

Mit Waffenexporten, wirtschaftlichen und politischen Interventionen und der Einflussnahme durch Finanzinstitutionen trägt der „Westen“ dabei einen großen Anteil an der Verschlechterung der Situation vieler Menschen. Europäische Regierungen arbeiten beispielsweise an Vereinbarungen wie der Khartoum Erklärung. Laut dieser sollen afrikanische Länder die Grenzen nach Europa hin dicht machen. Mit am Verhandlungstisch sitzen auch Vertreter der Militärdiktatur in Eritrea. Die Anerkennungsquote für Asylsuchende aus diesem Land liegt bei 99 Prozent.

Das Männerproblem?

David Frum kritisiert in seinem Artikel besonders den hohen Männeranteil bei den Flüchtlingen. Wenn „Krieg oder Hungersnöte“ herrschten, „dann fliehen sie in der Regel alle zusammen: Alte und Kinder, Frauen und Männer“, so Frum. Tatsächlich sind zwei Drittel der in Deutschland ankommenden Asylbewerber Männer. Wie die Jahresstatistik des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) für das Jahr 2014 zeigt, liegt ihr Anteil in der Gruppe der 18- bis 35-Jährigen sogar bei knapp 75 Prozent.

Diese Männermehrheit hat jedoch gute Gründe: Die wenigsten Familien sind so wohlhabend, dass sie sich eine gemeinsame Flucht leisten könnten. Obwohl Haus und Hof verkauft und Schulden gemacht werden, ist es den meisten nicht möglich, mehr als einem Familienmitglied die Überfahrt nach Europa zu finanzieren. In der Regel ist dies ein Mann im arbeitsfähigen Alter. Die Hoffnung ist, dass er, sobald er in Europa etabliert ist, die Familie nachholen kann, und zwar auf einem sicheren Weg.

Selbst bei Familien, die verhältnismäßig wohlhabend sind, bleiben Frauen und Kinder zunächst zurück. Frauen sind während der Überfahrt stark durch Entführungen und sexuelle Übergriffe gefährdet. Geflohene berichten außerdem von Situationen, in denen schreiende Kinder von Schleusern über Bord geworfen wurden.

Flüchtlinge als „Nettobelastung“?

Geflüchtete werden häufig nach ihrem finanziellen Wert beurteilt. „Je ärmer das Land ist, aus dem die Migranten kommen, desto höher sind die sozialen Kosten ihrer Aufnahme“, heißt es auch bei Frum. Die Wirtschaftsleistung der „Migrantenbevölkerung“ sei zum Beispiel in Schweden durch die ärmeren Flüchtlinge deutlich gesunken. Frum spricht in diesem Zusammenhang von „Nettobelastung“, „Schulabbrechern“ und „Kriminellen“.

Dabei belegen Statistiken, dass die nach Deutschland geflüchteten oder immigrierten Menschen bereits in der zweiten Generation höhere Abschlüsse erzielen als die autochthone Bevölkerung. In Kanada sei bereits die zweite Generation so gut integriert, dass sie volle Teilhabechancen erhalte, berichtet Ratna Omidvar, Präsidentin der Maytree Foundation. „Staatsbürgerschaft ist entscheidend! Je früher Migranten Bürger werden, desto schneller fühlen sie sich in einem Land und einer Gesellschaft zuhause“, so Omidvar.

Für den Migrationsexperten Doug Sanders ist Integration „ein lustiges Wort, weil viele denken, es bedeute, andere zu dem zu machen, was man selbst sei. Wenn Leute einen Job haben, werden sie ganz automatisch beginnen, Teil der Gesellschaft zu werden, ihre Kinder werden zur Schule gehen und erfolgreich sein“, sagt Migrationsexperte Doug Saunders. „Die Unterschiede werden bleiben, aber es werden nützliche Unterschiede sein.

Steuerflüchtige verursachen mehr Kosten als Flüchtlinge

Umso weniger verständlich ist die Abwehr gegen die Flüchtlinge, die mit hoher Qualifikation zu uns kommen. Zu uns, die wir mit einer auf den Kopf gestellten Alterspyramide kämpfen, die wir nicht wissen, wie zukünftig Renten gezahlt und alte Menschen versorgt werden sollen. Europa profitiert in enormem Maße von Fluchtbewegungen und Migration, gerade finanziell.

Die Versorgung der 2015 ankommenden Asylbewerber wird nach heutiger Schätzung etwa 10 Milliarden Euro kosten. Diese Kosten werden auch von den hier lebenden Menschen mit ausländischen Wurzeln getragen. Das ist mittlerweile jeder Fünfte in Deutschland.

Eine andere Art der „Flucht“, die Steuerflucht, kostet den Steuerzahler hingegen jedes Jahr bis zu 160 Milliarden Euro. Da könnte man Kosten senken, statt perfide die Armen gegeneinander auszuspielen und Ängste zu schüren, während die Reichsten Milliarden in Steueroasen verstecken.

Die zwei Gesichter der Aufnahmebereitschaft

Rechtskonservative Ansätze suggerieren der Bevölkerung, man könne nur eine bestimmte Anzahl Flüchtlinge aufnehmen – sonst sei der eigene wirtschaftliche Status bedroht. Ein Nebeneffekt davon ist der Anstieg rassistischer Denkmuster in weiten Teilen der Bevölkerung, insbesondere dort, wo der Kontakt zu Menschen mit ausländischen Wurzeln gering ist.

So entsteht Druck auf die Mitte der Gesellschaft. Ist die Politik nicht standhaft, kommt es zum Rechtsruck samt der Aushöhlung von Grund- und Bürgerrechten. Dazu gehört die Ankündigung von Innenminister Thomas de Maizière, ein „Kontingent“ für Asylsuchende einführen zu wollen. Sobald unser „Kontingent“ erfüllt ist, schicken wir Mädchen und Frauen, die Entführungen und Schlimmeres überlebt haben, Männer, die gefoltert wurden und Kinder, die traumatisiert sind, also wieder zurück?

Es gibt aber auch das andere Gesicht Deutschlands, das, welches die Geflüchteten mit Nahrung und Kleidung versorgt, sie am Bahnsteig freundlich begrüßt, ihren Kindern Spielzeug schenkt. Vereine öffnen sich und integrieren Geflüchtete beim Sport, lassen sie teilhaben am alltäglichen Leben. Ganze Dörfer werden durch Neuankömmlinge wieder zum Leben erweckt.

All die Unterschiede, Fähigkeiten und Potenziale der neuen Bürger können genutzt werden. Wichtiger aber noch ist, dass der Großteil unserer Gesellschaft dafür einsteht, dass es Werte gibt, die nicht in Euro und Statistiken beschreibbar sind.

[1] 1.805.255 Türkei, 249.726 im Irak, 629.128 in Jordanien, 132.375 in Ägypten, 1.172.753 im Libanon und 24.055 an verschiedenen Orten in Nordafrika, vgl.: http://www.proasyl.de/de/themen/zahlen-und-fakten/

[2] Die Anstalt. http://www.zdf.de/ZDFmediathek#/kanaluebersicht/2078314/sendung/Die-Anstalt.

[3] BAMF: “#Dublin-Verfahren syrischer Staatsangehöriger werden zum gegenwärtigen Zeitpunkt von uns weitestgehend faktisch nicht weiter verfolgt.“ Vgl.: https://twitter.com/bamf_dialog/status/636138495468285952

5 Antworten auf „Die Wahrheiten der Migrationsdebatte“

  1. Von G Henckel am 3. Oktober 2015

    Die Autorin verharmlost komplett die Lage.
    1 Million Asylanten im Jahr,70% Muslime.
    Hartz IV in Höhe von yprofessorengehälter in Afrika
    Parralelgesellschaften,Blutrache und Ehrenmorde.
    Dazu kommt nichts.
    Getrennte Schwimmkurse,Frauen wird die Hand nicht gegeben,wo leben Sie denn?
    Warum sollen wir uns Leute mit Clandenken ins Land holen?
    Ungelernte,zu 90% arbeitslos laut Nahles.
    Ihre Angaben sind falsch und D ist nicht das Sozialamt für die 3Welt.
    1996 forderte Lafontaine,SPD Parteivorsitzender,bei 100.000Russland Deutschen im Jahr,mit guter Eingliederungsprognose,
    Einen Stop.
    Die nehmen dem Deutschen Facharbeiter die Sozialwohnung Weg.
    Wie ist ihre Botschaft an das Deutsche Prekariat?
    Ich weiß es : Pack und Nazis!
    Was ist aus der armen SPD geworden?
    Gruß
    GH

  2. Von Friedrich Mayer am 3. Oktober 2015

    Drei Zitate, alle sekundär und wenig objektiv. Was soll damit wirklich belegt werden? Die übliche Schönrederei für Dumme.

  3. Von laus am 11. Oktober 2015

    Der Kommentar ist lediglich eine Wiederholung dessen was in der linken Szene als Argumentation und Rechtfertigung für die ungebremste Zuwanderung aller derjenigen die in Eurem Einlass begehren. Das es schon viele Negativ Beispiele um Deutschland herum gibt wird aus Ideologischen Gründen ausgeblendet. So eine verklärte Sichtweise ist genauso schädlich wie die Demagogen beiderseits des Politischen Spektrums.

  4. Von Marigny de Grilleau am 17. Oktober 2015

    Der „Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung“ verstand sich schon immer als die Speerspitze des „Reform“-Eifers und der Verteidigung der Agenda-Reformen gegen jede bessere Einsicht. Diesem Lobbyzirkel etwa für die Privatisierung der Bahn, der Altersvorsorge oder im Gesundheitssystem gehören so illustre Manager wie Florian Gerster (u.a. Präsident des Lohndrücker-„Bundesverbandes Briefdienste“), Manfred Güllner (Hofdemoskop von Gerhard Schröder) oder Anette Fugmann-Heesing (als frühere Berliner Finanzsenatorin verantwortlich z.B. für die Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe) an. Sprecher ist Klaas Hübner einer der Sprecher des „Seeheimer Kreises“, des dominierenden rechten Flügels innerhalb der SPD. Kurz: In diesem Kreis tummelt sich die frühere politische „Leibgarde“ Gerhard Schröders.

  5. Von Philipp am 7. April 2023

    8 Jahre später – was ist jetzt besser?

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