Ein Fall in Armut
Er kann rasant sein, der Abstieg von einem Leben in Wohlstand in eines, das von Armut und Fremdbestimmung gekennzeichnet ist. Wie bitter das Leben in dieser Situation ist, macht man sich oft nicht begreiflich.
Vor sechs Jahren ist meine Familie obdachlos geworden. Innerhalb weniger Monate ist uns finanziell und sozial völlig der Boden unter Füßen verloren gegangen. Ich hätte das früher auch nicht für möglich gehalten, mittlerweile weiß ich aber, dass es jeden treffen kann. Ich weiß, wie es sich anfühlt, arm zu sein, obwohl ich in einer wohlhabenden Familie in einer schönen Münchner Gegend aufgewachsen bin.
Diejenigen Menschen, die wissen, was es bedeutet arm zu sein, versuchen ihre Armut zu verbergen. Kein Wunder, werden doch Hartz IV-Bezieher oft als Schmarotzer bezeichnet und Obdachlose von den Straßen vertrieben. So wird die Armut anderer meist konsequent übersehen, ausgeblendet oder stigmatisiert.
Erst selbstständig, dann obdachlos
Im Zuge von Umstrukturierungsmaßnahmen, wie es damals hieß, entließ das Unternehmen, in dem mein Vater in leitender Position als Unternehmensberater arbeitete, zahlreiche ältere Mitarbeiter. Meinem Vater bot man eine Teilzeitstelle an. Doch anstatt diese anzunehmen machte er sich mit Anfang 60 selbstständig. Obwohl immer akribisch und auf Sicherheit bedacht, lief in der Selbstständigkeit vieles schief. Innerhalb weniger Monate waren wir hoch verschuldet und verloren sogar unsere Wohnung.
Es heißt, dass Eigentümer oft Probleme haben, lästige Mieter loszuwerden. Unser Vermieter hat nach drei oder vier nicht gezahlten Mieten Eigenbedarf angemeldet und die Wohnung per Gerichtsvollzieher räumen lassen. Er schickte eine Handvoll „Umzugshelfer“, die innerhalb weniger Stunden alles, was sich in fünf Zimmern auf 130 Quadratmeter befand, in Kartons packten und in einen Transporter luden. Viele Dinge, an denen wir hingen, gingen dabei kaputt, zahlreiche Wertsachen verschwanden einfach. Ein halbes Jahr nach unserem Auszug stand die Wohnung immer noch leer.
Arm sein kostet
Mit dem sozialen Abstieg sieht man sich schnell neuen Realitäten gegenüber. Ganz am Anfang stehen Schock, Überforderung und das Gefühl, keinerlei Rechte mehr zu haben. Auf dem Sozialamt erklärte man uns, wir würden nun bis zur Zuweisung einer Sozialwohnung in einer Obdachlosenunterkunft leben. Für die nächsten zehn Monate bewohnten meine Eltern und mein Bruder gemeinsam ein 20 Quadratmeter großes, karg eingerichtetes Zimmer in einem Obdachlosenheim, für das sie im Monat 450 Euro zahlen mussten. Küche, Bad und Toiletten teilten sie sich mit den übrigen Heimbewohnern. Ich selbst hatte das Glück, in der WG einer Freundin unterzukommen.
Unsere Möbel, Kleider, Bücher, Kindheitserinnerungen, Musikinstrumente, Bilder – kurz: unser ganzer Besitz wurde gepfändet und gleich nach dem Auszug in einer Lagerhalle untergebracht. Nur einige wenige Dinge konnten wir vor der Versteigerung retten (eine Stunde in der Lagerhalle kostete 25 Euro). Noch heute tut es weh, wenn ich mir vorstelle, dass das Klavier meiner Mutter in einer fremden Wohnung steht.
Armut ist vor allem Machtlosigkeit
Armut lässt sich nüchtern beschreiben, man kann sie in Zahlen messen (Einkommen, Schulden). Man kann sie sozial verschlagworten (Prekariat, Armenviertel). Man findet sie in Debatten um tatsächliche oder vermeintliche Hartz IV-Betrüger, Armutsflüchtlinge oder Ausbeutung in Minijobs. Das andere ist die persönliche, die emotionale Ebene.
Ich erinnere mich an das furchtbare Gefühl der Machtlosigkeit, des Ausgeliefertseins. Später kam Wut dazu. Wut auf mich, weil ich nichts ändern konnte. Wut auf die gesamte Situation, auch auf Menschen, die keine finanziellen Sorgen kennen. Und Scham. Plötzlich fühlte ich mich nicht mehr zugehörig, wollte mich nicht mehr mit meinen Freunden treffen, weil ich mir den Abend in einer Bar nicht mehr leisten konnte und mich dafür schämte. Ich hatte keine Lust, mit ihnen an den nahegelegenen Starnberger See zu fahren, weil es mir nicht richtig erschien, die Sonne zu genießen, während meine Eltern im Obdachlosenheim saßen.
Ausflug ins normale Leben
Zu der Zeit, als wir unsere Wohnung verloren, hatte ich gerade mit meiner Bachelorarbeit begonnen. In die Staatsbibliothek oder Uni zu gehen war mir mit einem Mal unangenehm. Ich hatte Angst, man könne mir ansehen, dass meine Familie im Obdachlosenheim wohnt. Für meine Familie selbst habe ich mich nie geschämt.
Bei meiner Bachelor-Feier etwa vier Monate später war auch meine Familie. Sie haben sich gefreut, dass ich meinen Abschluss trotz allem geschafft habe. Und doch wird mir dieser Tag immer als ein trauriger in Erinnerung bleiben: Die Unifeier erschien mir wie ein kurzer Ausflug meiner Familie in jenes normale Leben, aus dem wir herausgefallen waren.
Dieses Gefühl des Nicht-Dazugehörens führte dazu, dass ich mein Studium erst einmal aussetzte. Ich wusste noch nichts von Sozialberatung an Unis, ich hatte keine Energie, mich um BaföG oder Stipendien zu kümmern. Stattdessen begann ich, als freie Mitarbeiterin für eine Zeitung zu arbeiten.
Alte, neue Realität
Seitdem sind über fünf Jahre vergangen. Wir haben mit großer Anstrengung wieder in ein normales Leben zurückgefunden. Meine Mutter fing wieder an zu arbeiten und zahlte alle Schulden ab. Sie wohnt jetzt in einer Wohnung, die von der Stadt gefördert wird und die sie mit bei Ebay ersteigerten Möbeln geschmackvoll eingerichtet hat.
Mein Bruder hat eine Ausbildung gemacht und lebt in einer WG. Ich selbst bin für mein Masterstudium aus München weggezogen, habe BaföG beantragt und bin dank Stipendium ins Ausland gegangen.
Mein Vater ist kurz nach dem Umzug in unsere neue Wohnung gestorben.
Eine sehr berührende Geschichte. Es ist einfach schockierend, dass so etwas Menschen in dem Wohlstandsland Deutschland passieren kann. Und das sind keine Einzelfälle. Wie man dann einen Wahlslogan, (der für alle sprechen soll), nämlich „Deutschland, ein Land, in dem wir gut und gerne leben“ verbreiten kann, ist mir ein Rätsel. Diese vor dem Hintergrund dieses Sozialreports ungeheuerliche Behauptung hat Frau Merkel von der CDU bei der letzten Bundestagswahl auf Hunderttausenden von Wahlplakaten verbreitet. Für wen spricht sie eigentlich? Es gibt Millionen von Menschen in Deutschland, die hier alles andere als gut und gerne leben und für die sich die Politik nicht zuständig fühlt.