Ein Festival zwischen Kino und Politik
Nach drei Jahren Corona-Beschränkungen erstrahlte die 73. Berlinale endlich wieder in gewohntem Antlitz. Glitzer und Glamour traf auf Berliner Beton, Avantgarde auf Unterhaltungskultur. Und auch das politische Image des Festivals wurde poliert.
Die Internationalen Filmfestspiele in Berlin sind traditionsgemäß und dem Charakter der Hauptstadt entsprechend bekannt für ihren politischen Gestus. Die diesjährigen Gäste auf der Eröffnungsgala tragen fast ausnahmslos blau-gelbe Bärenanstecker, zeigen sich solidarisch mit der Ukraine. Die regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey drückt mit dem Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“ (kurdisch für „Frau, Leben, Freiheit“) ihre Unterstützung für die iranischen Protesten aus. Und während sich Vizekanzler Robert Habeck im Berlinale Palast in Begleitung mehrerer Minister:innen auf den Eröffnungsfilm freut, protestieren draußen Aktivist:innen der Letzten Generation. Doch sorgt ein Gast für besonderes Aufsehen: Wolodymyr Selenskyj.
Der ukrainische Präsident – wie so oft live per Video zugeschaltet – erinnert an die erste Berlinale, die bereits 1951 im Zeichen des Ost-West-Konflikts stand und als „Schaufenster der freien Welt“ galt. Dieses Motto haben sich wohl auch Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek und ihr künstlerischer Leiter Carlo Chatrian zu Herzen genommen. Zwei Schwerpunkte im Programm legen den Leinwandfokus auf den Iran und den Krieg in der Ukraine. Vor allem letzterer hat es in sich.
Eine Leinwand für ein Land im Krieg
Die Filme über den Krieg sollen eine stärkere Auseinandersetzung mit der Situation in der Ukraine und den Betroffenen fördern, hatte Mariette Rissenbeek im Vorfeld gesagt. W Ukrainie von Piotr Pawlus und Tomasz Wolski zeigt ein Panorama des Landes seit Ausbruch der Invasion. Nüchtern portraitiert der Film Menschen, die gezwungen sind, mit omnipräsenter Gewalt und Zerstörung zu leben. Schonungslos in seiner Darstellung ist Shidniy Front von Vitaly Mansky und Yevhen Titarenko. Der Film nimmt die Zuschauer:in mit an die Front und verfolgt mit der Handkamera den Alltag freiwilliger Sanitäter:innen. Der Wechsel von idyllischen Bildern der Sanitätsgruppe am See zu sterbenden Soldat:innen an der Front schockiert nachhaltig.
Einen Wermutstropfen gibt es dann aber doch: Superpower von Sean Penn. Die von Patriotismus aufgeladene Dokumentation in CSI-Optik gleicht eher einem Imagevideo für mehr Waffenlieferungen als einer seriösen Reportage. Actiongeladen inszeniert dreht sich der Film hauptsächlich um Sean Penn selbst und seine Bewunderung für Präsident Selenskyj. Hätte man sich sparen können, diesen Beitrag, aber ein Weltstar macht sich eben gut auf dem roten Teppich.
Das Rennen um den Goldenen Bären
Bei all den politischen Inhalten ist und bleibt die Berlinale ein Filmfestival mit Wettbewerb. Jedes Jahr vergibt eine Gruppe aus branchenfesten Expert:innen den begehrten Hauptpreis. Dieses Jahr steht Kristen Stewart der internationalen Jury für die Vergabe des Goldenen Bären vor. Angesichts eines der vielseitigsten Wettbewerbe der letzten Jahre keine leichte Entscheidung. So findet sich neben typischen Berlinale-Dramen das Psychogramm eines frustrierten Mannes, der sich in einem Männlichkeitskult radikalisiert (Manodrome von John Trengove) oder eine bildgewaltige Allegorie auf Rassismus und kapitalistische Ausbeutung (The Survival of Kindness von Rolf De Heer). Und so steht ein Film über die Erfindung des ersten Smartphones (BlackBerry von Matt Johnson) neben einem japanischen Anime (Suzume von Makoto Shinkai). Selten hat eine Berlinale derart unterschiedliche Sujets und Genres bedient.
Aus der bunt gemischten Palette hatte ein Film auf mich besondere Strahlkraft. (Und das nicht nur wegen der schauspielerischen Unnachahmlichkeit des großartigen Franz Rogowski.) Disco Boy von Giacomo Abbruzzese erzählt die Geschichte eines Belarussen, der für einen französischen Pass in der Fremdenlegion im Nigerdelta um sein Überleben kämpft. Entlang der Identitätssuche des geflüchteten Protagonisten verhandelt der Film die Themen Flucht nach Europa und neokoloniale Gewalt. Ein komplexer und dennoch in Neonfarben getauchter und durch lauten Techno getriebener, sinnlicher Film!
Die 73. Ausgabe der Berlinale war zweifellos ein aussagekräftiges Kulturereignis. Mit dem Wettbewerb als Gegengewicht zu den zwei Schwerpunkten schaffte das Festival erneut, den Spagat zwischen Kino als Träger politischer Botschaften und Kino als Erfahrungsraum großer Bilder und Emotionen zu verkörpern. Ein Problem der Aufmerksamkeitsökonomie aber bleibt: Bei all dem Fokus auf der Ukraine und dem Iran geraten – und das nicht nur auf der Berlinale – manche Filmperle und eben auch andere, nicht minder bedeutsame Missstände auf der Welt leider in den Hintergrund.
Die Auszeichnungen werden im Rahmen der offiziellen Preisverleihung im Berlinale Palast am 25. Februar verliehen. Dürfte ich einen Preis vergeben, würde er wohl an Infinity Pool von Brandon Cronenberg gehen. Aber der läuft erstens nicht in der Sektion Wettbewerb. Zweitens ist die äußerst blutige Horror-Groteske vermutlich etwas zu abgedreht für den Goldenen Bären. Mein Herz fürs Genrekino machte trotzdem Freudensprünge im Kino.
Was bleibt? Nicht nur Bild, auch das Wort. Hier darum noch meine einprägsamsten Filmzitate der diesjährigen Berlinale:
„Zu viel Höflichkeit baut eine Mauer zwischen den Menschen.“
(The Shadowless Tower von Zhang Lu)
„Tell me what would you have been if you were born among the whites?“
(Disco Boy von Giacomo Abbruzzese)
frei übersetzt:
„Sag mir, was wärst du geworden, wenn du unter den Weißen geboren wärst?“
Und zu guter Letzt hier ein paar Klassiker, die jede Aufmerksamkeit wert sind, immer und überall: