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Ein Volk ohne Staat

Von Jonas Jordan / 21. April 2016
picture alliance/EPA-EFE | GAILAN HAJI

Seit fast 100 Jahren sind die Kurden im Nahen Osten ein Volk ohne eigenen Staat, verteilt auf vier Länder. Lange einte sie nur der Status als unterdrückte Minderheit. Doch in letzter Zeit wächst die Solidarität unter den Kurden.

Bereits nach dem Ersten Weltkrieg sollten die Kurden einen eigenen Staat bekommen. Doch der türkische Präsident Mustafa Kemal – heute noch unter dem Namenszusatz „Atatürk“ (etwa: „Vater der Türken“) bekannt – verhinderte dies. Fortan galt in der Türkei Atatürks Leitspruch „Ein Volk. Eine Sprache. Eine Nation.“ Die Kurden blieben ein Volk ohne Staat, verteilt auf vier Staaten: Türkei, Syrien, Irak und Iran.

„Deshalb fällt es auch schwer, von einer einheitlichen kurdischen Identität zu sprechen“, sagt Rosa Burç, deutsch-türkische Politikwissenschaftlerin. Sie selbst ist Kurdin und hat viele Freunde im Südosten der Türkei. Ihr Vater ist Programmdirektor des oppositionellen Fernsehsenders IMC TV, der unter anderem ein Studio in der inoffiziellen Kurdenhauptstadt der Türkei, Diyarbakir, unterhält.

Vier kurdische Identitäten

Etwa 35 Millionen Kurden leben Schätzungen zufolge heute im Grenzgebiet zwischen dem Nordirak, dem Norden Syriens, dem Südosten der Türkei und dem Westen des Iran. „In Kurdistan gibt es viele verschiedene Einflüsse, man kann deswegen nicht – wie oftmals in den Medien suggeriert – von einem Volk oder einer Identität sprechen“, sagt Rosa Burç. „Vielmehr sind es vier verschiedene kurdische Identitäten. Doch alle Kurden verbindet der Status einer unterdrückten Volksgruppe.“

Rosa Burc
Politologin Rosa Burç (Foto: Privat)

Dennoch steht die Forderung nach der kurdischen Selbstbestimmung – beispielsweise in Form eines eigenen Nationalstaats – seit dem Ende des Ersten Weltkriegs immer wieder im Raum. Laut Rosa Burç ist das zu Unrecht der Fall. Zwar eine alle Kurden das Streben nach stärkerer Autonomie. Doch die Vorstellungen von dieser Autonomie seien sehr unterschiedlich. Während die irakischen Kurden einen kurdischen Nationalstaat forderten, wünschten sich die Kurden in der Türkei – im Parlament vertreten durch die HDP (deutsch: Demokratische Partei der Völker) – stärkere Autonomie innerhalb einer föderal organisierten Türkei.

Der gemeinsame äußere Feind, der IS, stärkt seit dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs im Jahr 2011 das Gemeinschaftsgefühl der Kurden länderübergreifend. Kurden im Nordirak, Syrien und aus der Türkei kämpften Seite an Seite. Zentraler Akteur dieser kurdischen Befreiungsbewegung ist neben der syrischen YPG und irakischen Peschmerga-Kämpfern auch die PKK, die kurdische Arbeiterpartei, die auch in Deutschland, vielmehr aber noch in der Türkei als Terrororganisation angesehen und seit Ende vergangenen Jahres auch wieder heftig von türkischen Regierungstruppen mit militärischen Mitteln bekämpft wird.

40.000 Opfer in 30 Jahren

Die PKK ist 1978 als marxistisch-leninistische Partei Kurdistans im Südosten der Türkei entstanden. Fünf Jahre später rief der PKK-Führer Abdullah Öcalan zum bewaffneten Kampf gegen das türkische Militär auf. Dieser Konflikt hat in dreißig Jahren rund 40.000 Opfer gefordert. Öcalan selbst stammt aus einer kurdisch-türkischen Familie. In seinem Elternhaus wurde jedoch nur Kurdisch gesprochen, eine Sprache, die in der Türkei lange Zeit verboten war.

Nach dem Einmarsch von Saddam Hussein in Kuwait 1990 nutzte die PKK das entstandene Machtvakuum im Nordirak, um sich mit zusätzlichen Waffen zu versorgen. Sie wurde dadurch erheblich gestärkt. Gleichzeitig wurde die PKK unter Führung Öcalans von Seiten Syriens – damals noch unter Präsident Hafiz al-Assad, dem Vater des heutigen Diktators – aktiv bei ihrem Kampf gegen das türkische Militär unterstützt.

Erst Ende der 1990er Jahre fordert Hafiz al-Assad Öcalan auf, Syrien zu verlassen. Bis dato genoss der PKK-Führer den Schutz des syrischen Staates. Öcalan suchte Asyl in Europa. Doch weder Italien noch Griechenland oder Deutschland gewährten ihm dieses Recht. Im Februar 1999 wurde Öcalan in Kenia festgenommen. Nach seiner Verurteilung befiehlt Öcalan den PKK-Kämpfern, sich in die Berge zurückzuziehen.

Mehr Rechte für die Kurden dank Erdogan

Nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten erlaubte Recep Tayyip Erdoğan im Jahr 2003 Kurdischunterricht an Privatschulen. Zudem durfte rund um die Uhr kurdisches Fernsehen gesendet werden. Die Kurden erhielten mehr kulturelle und politische Rechte. Diese Entscheidungen brachten Erdoğan zunächst gute Wahlergebnisse in den kurdischen Regionen der Türkei.

Mit dem Erstarken der Kurden seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs haben sich die Vorzeichen für Erdoğan geändert. Das zeigt sich zum einen im syrisch-türkischen Grenzgebiet, wo die PYD – eine Schwesterpartei der PKK – nach dem Abzug von Assads Truppen Mitte 2012 die Kontrolle über strategisch wichtige Orte im Norden Syriens übernommen hat. Zum anderen zeigt es sich bei den Parlamentswahlen im Juni 2015, bei denen die Kurdenpartei HDP erstmals ins Parlament einzieht und Erdoğans AKP die absolute Mehrheit verliert (bei den Neuwahlen im November 2015 eroberte die AKP diese jedoch zurück).

Grenzübergreifende Solidarität nach Ausgangssperren

In der Folge ordnete der Präsident in den kurdischen Gebieten des Landes Ausgangssperren an und ging mit militärischen Mitteln gegen die PKK vor. Das stärkt die Solidarität unter den Kurden. „Als die ersten Ausgangssperren verhängt wurden, sind viele Menschen aus Syrien und dem Irak einfach unerlaubt über die Grenze in die Türkei und haben sich solidarisiert“, so Politikwissenschaftlerin Burç. „Der Zusammenhalt innerhalb der kurdischen Gemeinschaft ist gestärkt worden.“

2013 – bevor der Konflikt zwischen der PKK und der türkischen Regierung wieder aufflammte – durften sich die Kurden erstmals in der 90-jährigen Geschichte der türkischen Republik ungehindert versammeln und das kurdische Neujahrsfest feiern. Auf diesem wurden Worte Öcalans verkündet, wonach künftig Politik statt Waffen zählen sollte. Bisher sprechen vor allem die Waffen.

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