Einmal Demokratie, immer Demokratie?
Geschichtlich betrachtet steht es nicht gut um uns: Demokratien mussten immer wieder autoritären Regierungen weichen. Professorin Dr. Beate Küpper erklärt, welche Gefahren es für die Demokratie in Deutschland gibt und wie wir uns für demokratische Ideen einsetzen können.
Beate Küpper hat eine Professur an der Hochschule Niederrhein für Soziale Arbeit in Gruppen und Konfliktsituationen, ist stellvertretende Leiterin des Instituts SO.CON Social Concepts und Mitglied im Stiftungsrat der Amadeu Antonio Stiftung. Außerdem ist sie seit 2014 Autorin für die FES-Mitte-Studien. Hier erläutert sie, wie es um demokratiegefährdende und demokratische Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft bestellt ist.
sagwas: So eine Ahnung, was mit “Mitte“ gemeint ist, hat man, der Begriff wird oft genug benutzt, aber: Was oder wer genau ist diese Mitte?
Beate Küpper: Die “Mitte“ ist ein sehr schwammiger Begriff, aber gerade daraus zieht er seine Stärke. Denken Sie an das Bild einer Antilopenherde: In der Mitte scheint es sicher. Die Mitte wirkt ausgeglichen, die Mitte ist ruhend, die Mitte ist demokratisch, so zumindest die implizite Unterstellung. Daher ist der Begriff auch politisch beliebt. Wir hinterfragen diesen Begriff wissenschaftlich, in dem wir empirisch in diese Mitte schauen: Was hat die durchschnittliche Bevölkerung tatsächlich für politische Haltungen, wie demokratisch ist die Mitte eigentlich?
Wer sich Umfragen anschaut, stellt fest, dass es viele Befragte gibt, die von sich sagen: „Ich bin demokratisch“, gleichzeitig aber antidemokratische Einstellungen haben. Gibt es ein falsches Demokratieverständnis oder wie kommen solche Widersprüche zustande?
Sich selbst demokratisch zu nennen, hat, und das sage ich ein bisschen salopp, einfach die Bedeutung: Ich bin auf der Seite der Guten. Es gibt kaum Leute, die sich selbst explizit als antidemokratisch bezeichnen. Es gibt unterschiedliche Definitionen von Demokratie und einige versuchen auch politisch, die Definition zu dehnen. Für uns in Deutschland ist die Demokratie durch die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Grundgesetz festgesteckt. Der Kern und die Basis sind die Grund- und Menschenrechte, Würde und Gleichwertigkeit, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit. Und demokratiegefährdende Einstellungen sind dementsprechend die Ablehnung dieser Kernbestandteile.
Aus der Einstellungsforschung wissen wir, dass wir Menschen ambivalent sind. Dass wir das eine meinen, aber das andere tun. Gefühlt 99 Prozent der jungen Leute sind für Umweltschutz, viele kaufen dann trotzdem die Plastikwasserflasche und etliche werfen sie irgendwo hin, weil gerade kein Papierkorb da ist. Unser Leben ist voller Ambivalenzen in unserem Denken und tun. Genauso ist es auch bei der Demokratie: Da stößt auf der einen Seite die Haltung und Überzeugung „Ja, Demokratie ist grundsätzlich gut“, die sehr viele haben, auf uralte Ressentiments „gegen die Anderen“ und gleichzeitige antidemokratische Einstellungen, die ihrer eigenen Vormachtstellung dienlich sind. Sie helfen abzusichern, wer mehr, wer weniger Einfluss, Rechte, Wohlergehen hat. Oder man will gut dastehen und deswegen ist man demokratisch eingestellt, will aber gleichzeitig auch alle vordergründigen Vorteile davon mitnehmen, wenn man andere abwertet, nämlich die eigene, bequeme Aufwertung.
Zwischen 2019 und 2021 wird in Untersuchungen von einem positiven Trend geredet: Weniger Menschen vertreten rechtspopulistische und rechtsextreme Einstellungen. Das hört sich gut an, doch woher kommt der Trend und wie geht es weiter?
Seit 1949 können wir beobachten, wie sich das Land zunehmend demokratisiert und offener wird. Studien zeigen, dass die Generationen weniger rassistisch, antisemitisch, sexistisch usw. werden. Doch der weltweite Trend zur Demokratisierung ist gekippt. Der Backlash zeigt sich in autoritär regierten Staaten. Auch in der EU wird an der liberalen Demokratie und offenen Gesellschaft gekratzt, denken wir an Polen und Ungarn. Wenn wir uns anschauen, was die AfD im Parteiprogramm hat, sehen wir auch hier: Es wird gekratzt, beispielsweise an der Gleichstellung der Geschlechter. Wir müssen aufpassen, nicht in den weltweiten Trend hineinzusurfen, und wir müssen befürchten, dass der positive Trend nicht so positiv bleiben wird.
Der positive Trend von 2021, den wir z. B. in der FES-Mitte-Studie berichten, lag auch am zweiten Lockdown. Das Land war erschöpft, aber es wurde auch besonders viel Wert auf gegenseitige Rücksichtnahme gelegt und viele Menschen waren in der ernsten Lage das laute Geschrei und Hetze des Populismus leid. Aber damals haben wir schon den Graubereich, so haben wir ihn genannt, beobachtet. Bei einigen der extrem rechten Einstellungsaussagen „Deutschland braucht einen Führer“ oder „Es gibt lebenswertes und unwertes Leben“, stimmten die meisten nicht zu, aber es gab zunehmend Leute, die solche Aussagen auch nicht mehr klar ablehnten. Das ist die rechtsextreme Saat, die ihren Weg in die Mitte gefunden hat.
Was ist mit der jungen Generation: Welche Einstellungen und welche Veränderungen sind dort zu beobachten?
Jahrelang ergab sich so eine Art von Gesetzmäßigkeit: Jede Generation ist demokratischer und weniger menschenfeindlich als die älteren. Dann hat man vielleicht gedacht, da stirbt die Menschenfeindlichkeit einfach aus. Aber jetzt sieht man, junge Leute ziehen wieder nach, zum Beispiel beim Antisemitismus oder beim Sozialdarwinismus, der annimmt, dass es eine natürliche Ordnung, wertes und unwertes Leben gibt. Und das ist etwas, das mir persönlich große Sorgen macht.
Woher kommen diese antidemokratischen Einstellungen junger Leute?
Junge Leute leben nicht auf dem Mond. Sie wachsen mit den Werthaltungen und Normen in ihrer nächsten Umgebung auf. Sie wachsen in eine Gesellschaft hinein, in der viel über die Politik geschimpft wird, in der mit Antisemitismus gespickte Verschwörungsmythen gerade auch über das Internet weite Verbreitung erfährt, und das übernehmen sie, selbst wenn sie es vielleicht nicht selber erlebt haben. Sie sind außerdem groß geworden in 40 Jahren Neoliberalismus. In einer Gesellschaft, die sehr wettbewerbslastig ist, in der es darum geht, sich gegen andere durchzusetzen. Da liegen die Werte des Sozialdarwinismus nicht fern.
<<Wir brauchen Partizipation und politische Bildung gekoppelt mit Demokratieverständnis und demokratischer Werthaltung und dazu gehört Empathie anderen Menschen gegenüber>>
Beate Küpper
Wie lautet Ihr Plädoyer für reflektierte Partizipation?
Momentan heißt es immer: mehr Partizipation und Beteiligung! Ja, das ist gut. Aber es braucht zugleich demokratische Kultur und Verantwortung! Das würde ich gerne nochmal betonen: Beteiligung ist nämlich nicht – ähnlich wie wählen gehen – automatisch demokratisch. Die NSDAP ist auch gewählt worden. Wir brauchen Partizipation und politische Bildung gekoppelt mit Demokratieverständnis und demokratischer Werthaltung und dazu gehört Empathie anderen Menschen gegenüber in einem solidarischen Miteinander. Wir wissen aus Gesellschaften, die gleichwertiger sind, dass sie insgesamt zufriedener sind, denn Ungleichwertigkeit ist auch für die, die oben stehen, ziemlich anstrengend. Man muss sich dauernd verteidigen und fühlt sich ständig bedroht. Und für die, die unten stehen, ist es sowieso unerträglich – viele wissen ja leider auch aus eigenem Erleben, was Demütigung mit uns macht, da kommt nichts Gutes raus, für niemanden und für die Gesellschaft insgesamt.
Von daher wäre mein Plädoyer an junge Leute: mitmachen, sich einbringen, aber sich genau überlegen, woher kommt die Demokratie und warum glauben wir fest daran, dass das eine gute Idee ist? Weil wir sonst irgendwo landen, wo wir nicht landen wollen – und zwar alle miteinander.