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Entscheidungsschlacht für die Sozialdemokratie

Von Marc Saxer / 19. Juni 2012
picture alliance / dieKLEINERT.de / Daniel Matzenba | Daniel Matzenbacher

In der Agonie der Eurokrise überschlagen sich nicht nur die Ereignisse, auch die ideologischen Wellen schlagen hoch. Die Ärzte am Krankenbett des europäischen Patienten sind sich nicht nur uneinig über die richtige Medizin –Aderlass oder Infusion – sondern diagnostizieren grundsätzlich verschiedene Krankheiten. Haben die Europäer seit Jahren über ihre Verhältnisse gelebt – oder haben sie […]

In der Agonie der Eurokrise überschlagen sich nicht nur die Ereignisse, auch die ideologischen Wellen schlagen hoch. Die Ärzte am Krankenbett des europäischen Patienten sind sich nicht nur uneinig über die richtige Medizin –Aderlass oder Infusion – sondern diagnostizieren grundsätzlich verschiedene Krankheiten. Haben die Europäer seit Jahren über ihre Verhältnisse gelebt – oder haben sie ihr Erspartes dem kranken Bankenonkel geliehen (derselbe Onkel übri­gens, der nun horrende Zinsen dafür verlangt, dass man bei ihm wieder Geld leihen kann).

Am Krankenbett stehen sich zwei entgegengesetzte Denk­schulen gegenüber, der Neoliberalismus und die Sozial­demokratie. Moment mal, der Neoliberalismus? Ist das nicht derselbe, dem im Zuge der Finanzmarktkrise das Toten­glöckchen läutete? Waren die Neoliberalen nicht als Schar­latane enttarnt, die mit ihrer Deregulierungsmedizin den ganzen Schlammassel erst angerichtet hatten?

Heute können die Neoliberalen ihr Glück kaum fassen. War es nicht ein außerordentlicher Glücksfall, dass die Eurokrise ausgerechnet in Griechenland begann? Ja genau: jenem Griechenland, dem es trotz jahrzehntelanger Subventionen nie gelungen war, Korruption, Klientelismus und Steuer­betrug in den Griff zu bekommen. Der Boulevard lechzte förmlich danach, Schlendrian, soziale Hängematte und Staatsschulden zu einem unappetitlichen Gebräu zu ver­mischen. Die abstrakte Finanzkrise wurde so zu einem stammtischkompatiblen Moral-Lehrstück über fleißige Nordvölker und faule Müßiggänger im Süden. Beinahe gerecht erschien es den emsigen Ameisen, dass die Zucht­meister der Finanzmärkte nun den südländischen Grillen die Quitting für ihren Schlendrian ausstellten. In Deutschland fiel die Milchmädchenrechnung der „schwä­bischen Haus­frau“ auf besonders fruchtbaren Boden, weil in jedem von uns auf ewig das Trauma der Hyperinflation schlummert. Um diesen Geist zu bannen, werden nun Rosskuren ver­schrieben, die zur Heilung der schwindsüch­tigen Volks­wirtschaften ungefähr so geeignet sind wie ein mitterlalterlicher Aderlass.

Viel entscheidender ist jedoch die Langzeitprognose für die europäischen Patienten: um wieder auf die Beine zu kommen, könnten sie nicht mehr länger „über ihre Verhält­nisse leben“. Noch einmal zeigt sich, welche glückliche Fügung es war, dass die Eurokrise im hochverschuldeten Griechenland ihren Ausgang nahm. Schon ein Blick nach Spanien und Irland zeigt, dass die Staatsverschuldung dort erst in der Folge der Bankenrettungen in die Höhe schnellte. Auch der nüchterne Vergleich mit den Vereinigten Staaten und Japan bestätigt, dass die europäische Staatsverschul­dung im Durchschnitt keineswegs außergewöhnlich ist. Doch solcherlei Nuancen passen nicht ins Bild der neoliberalen Ideologen.

Die Nebelwände bereiten vielmehr den Boden für die erstaunliche Rückkehr des Neoliberalismus. Das eigene Versagen wurde erfolgreich verschleiert, indem man die Finanzkrise den Staaten in die Schuhe schob. Ja genau, den Staaten, die vor drei Jahren die Finanzmärkte vor der Kernschmelze retteten, indem sie in gigantischem Umfang neue Schulden aufnahmen. Im Zuge der amerikanischen Schuldenkrise im letzten Jahr wurde salomonisch perfide geraten, eine Lösung sei nur denkbar, wenn beide Seiten endlich bereit seien, ihre heiligen Kühe ins Schlachthaus der Austerität zu bringen. Ohne zu erröten, wurde hier der sklerotische Klepper „US Sozialstaat“ mit dem fettgemäs­teten Militärhaushalt auf eine Stufe gestellt. Eine ähnliche Erklärung schwappt nun über den großen Teich nach Europa: Wir hätten mit unseren fetten Sozialstaaten eben jahrzehn­telang über unsere Verhältnisse gelebt, auf Dauer könne aber niemand der Schwerkraft ein Schnippchen schlagen.
Man muss kein Hellseher sein, um die Folgen abzusehen. Setzt sich diese Erklärung der Eurokrise durch, sind die Sozialstaaten wieder zum Abbruch freigegeben. Die Süd­europäer werden als erste ihren sozialstaatlichen Balast abwerfen, um dem Würgegriff der Finanzmärkte zu entschweben. Aber auch im protestantischen Norden wird der Druck zunehmen, auf den Pfad der sparsamen Tugend einzuschwenken. Den Sozialstaat, werden die Standort­prediger grollen, können wir uns schlicht nicht mehr leisten, wenn wir nicht vom globalen Wettbewerb überrollt werden wollen.

Die Messer sind also gewetzt, und auf der Schlachtbank liegt nicht nur Griechenland, sondern die soziale Demokratie. Ob es den Sozialdemokraten heute gelingt, ihre Erklärung der Krise durchzusetzen wird nicht nur die amerikanische Präsidentschaftswahl entscheiden. Ob Austeritäts-Rosskur oder keynesianische Wachstumsstimuli verabreicht werden, wird über das Schicksal der europäischen Gemeinschaft entscheiden. Ob es gelingt oder nicht, die Deutung der Krise zu bestimmen, entscheidet schließlich darüber, ob es der Sozialdemokratie in den nächsten Jahrzehnten gelingt, ihre gesellschaftspolitische Vision umzusetzen.

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