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Erinnerung ist kein Selbstläufer

Von Camilla Lindner / 9. Juni 2021
picture alliance/dpa | Christoph Soeder

Gerade weil kollektives Erinnern in einer pluralistischen Gesellschaft alles andere als selbstverständlich ist, wird gelebte Erinnerungskultur umso wichtiger. Dabei eint vor allen Dingen die Überzeugung, sich gegen das Vergessen eines Geschehnisses einsetzen zu müssen.

Während analoge Treffen aufgrund der Covid-Pandemie noch immer eingeschränkt sind, erinnern wir uns (womöglich umso deutlicher) an die letzte Geburtstagsparty oder sogar an den Moment der Einschulung sowie andere besondere Ereignisse. Es mag manchen erst jetzt richtig klar werden, wie wichtig das gemeinsame Feiern von Ritualen und Festen ist. Was scheinbar in Vergessenheit geraten ist, findet so wieder an die Oberfläche unseres Bewusstseins. Zumindest auf individueller Ebene.

Was heute erinnert wird, prägt die Zukunft

Erinnern ist laut der deutschen Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann ein nie abgeschlossener Prozess. Zusammen mit ihrem Mann Jan Assmann hat sie den Begriff und die Theorie eines „kulturellen Gedächtnisses“ geprägt. Das kulturelle Gedächtnis pendelt dem Forscherehepaar zufolge zwischen zwei Modi der Erinnerung hin und her: zwischen dem aktiven Funktionsgedächtnis und dem passiven Speichergedächtnis. In Letzterem werden Quellen und Informationen aufbewahrt. Das Funktionsgedächtnis dagegen „enthält die jeweilige kleine Auswahl dessen, was eine Gesellschaft jeweils von der Vergangenheit auswählt und aus dem Bestand ihrer kulturellen Überlieferung aktualisiert“, so die promovierte Wissenschaftlerin in einer Publikation aus dem Jahr 2008. Was die verschiedenen Standpunkte von unterschiedlichen Menschen beispielsweise bei einer Trauerfeier oder an Weihnachten vereint, ist die Verbindung von Erinnerung und Kollektiv. Für Aleida Assmann begründet gerade diese mitunter trivial erscheinende Verbindung das zukünftige Gedächtnis und eine Basis für eine gemeinschaftliche Erinnerungskultur. Es geht Assmann stets um die Frage: Was wollen wir als eine Gruppe, ein Verband oder gar als Land erinnern und was wollen wir lieber vergessen?

Wer sich mit Assmanns Ausführungen beschäftigt, lernt schnell, dass Erinnern mehr als nur eine kognitive Fähigkeit darstellt. Es geht um aktives Handeln, darum, sich zu fokussieren und zu konzentrieren, etwas zurückzuholen. Denn Vergangenes will aufgezeigt, Geschehenes interpretiert werden.

Erinnerung ist demnach kein Selbstläufer. Die Vergangenheit wird durch die gegenwärtige Thematisierung gewissermaßen aktualisiert. Dabei schafft gemeinsames Erinnern ein Miteinander und Orientierungspunkte, die über individuelle Erfahrung hinausgehen. Im Fall des getöteten US-Amerikaners George Floyd lässt sich unschwer erkennen, wie identitätsstiftend Gedenkveranstaltungen für ein Kollektiv sind, das nicht nur aus trauernden Verwandten und Freunden besteht, sondern auch Aktivist:innen weltweit miteinschließt.

Erinnern ist höchst politisch

Selbst etwas, das länger zurückliegt wie beispielsweise die Geschichte der Weißen Rose, ist nie ganz abgeschlossen. Die in Deutschland geführte Debatte rund um Sophie Scholl veranschaulicht dies nicht zuletzt mit dem kürzlich von Südwest und Bayerischer Rundfunk eingerichteten Instagram-Account @ichbinsophiescholl zum 100. Geburtstag der vom NS-Regime 1943 ermordeten Widerstandskämpferin. Darin werden die letzten Monate Scholls in einer Art Reenactment durch tägliche persönliche Posts “dokumentiert“. Neben einer jüngst erschienenen Biographie soll so auch in den sozialen Medien die Erinnerung an die heldenhafte Sophie Scholl hochgehalten werden. Medial und politisch hat diese Form der Realitätsaneignung – wobei die Inhalte des Skripts durch Historiker:innen geprüft worden sein sollen – nicht nur Lob, sondern auch Kritik mit sich gebracht.

An der Person Sophie Scholl zeigt sich jedoch: Was von verschiedenen Seiten interpretierbar ist, ist ebenso manipulierbar. Im November 2020 stellte sich auf einer Querdenker-Demonstration in Hannover eine Frau auf die Bühne und verglich sich mit Sophie Scholl. Auch sie sei im Widerstand, sagte die Frau, genau wie die einstige Regimekritikerin. Der Vergleich zwischen aktuellen Pandemie-Maßnahmen der Bundesregierung und der Opposition Scholls gegen das faschistische Regime eines grausamen Nazi-Deutschlands stieß allerdings sowohl im Netz als auch außerhalb überwiegend auf tiefe Ablehnung.

Geht digitales Erinnern?

Angesichts hitziger Diskussionen bleibt offen, ob ein Projekt wie @ichbinsophiescholl angemessen an die echte Sophie Scholl erinnern kann. Nicht wenige Menschen stehen dem Internet als Speichermedium grundsätzlich skeptisch gegenüber. Es sei mit Blick auf Datenschutzbestimmungen, Informationsfreiheit und notwendiger Speicherkapazität weder sicher noch sollte es ausschlaggebend dafür sein, was als kulturell relevant gelten und erinnerungswürdig sein sollte, heißt es. Aller Trends innerhalb der sogenannten Digital Community und viral gehender Inhalte im World Wide Web zum Trotz.

Während die Bedeutung digitaler Aufbewahrungsorte weiter für gesellschaftliche Debatten sorgen wird, ist sich Aleida Assmanns Ehemann Jan Assmann jetzt schon sicher: „Was morgen als bedeutsamer Teil unserer Vergangenheit angesehen wird und im kulturellen Gedächtnis fortleben wird, entscheidet sich nicht im Web.“

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